Donnerstag, 19. Dezember 2024

Die Neue Sachlichkeit

Ausschnitt aus der Austtellungswebsite der Kunsthalle Mannheim

In der Kunsthalle Mannheim läuft seit dem 22.11.2024 (und noch bis zum 09.03.2025) die Ausstellung "Die Neue Sachlichkeit - Ein Jahrhundertjubiläum". Anlass ist die Erinnerung an die erste Ausstellung in Mannheim, in der die zeitgenössische Kunst vor hundert Jahren diesen damals ganz neuen Namen erhielt. Wer sich etwas intensiver damit beschäftigen will, sei auf die kleine Broschüre zur Ausstellung verwiesen.

Bei Wikipedia ist unter diesem Stichwort zu lesen, dass die 1920er-Jahre von einer politischen und gesellschaftlichen Zeitenwende nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geprägt waren. Während in den frühen 1920er-Jahren Armut und Arbeitslosigkeit herrschten, erlebte die Weimarer Republik ab 1923 einen starken wirtschaftlichen Aufschwung, der 1929 mit dem Börsencrash ein Ende fand. Innerhalb der Neuen Sachlichkeit, der vorherrschenden Kunstströmung dieses Jahrzehnts, waren die sozialen Missstände, aber auch die politische und gesellschaftliche Situation des Landes, das sich im Umbruch befand, wichtige Themen. Dabei stand die Abbildung der nüchternen Wirklichkeit im Vordergrund.

Gustav Friedrich Hartlaub, Leiter der Kunsthalle Mannheim, fasste 1925 unter dem Ausstellungstitel „Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ die führenden Künstler dieser Zeit -einschließlich des eine Sonderrolle einnehmenden Max Beckmann - in einer Wanderausstellung zusammen. Im Sinne einer Desillusionierung waren viele von ihnen wieder zum Gegenstand, zum Alltagsobjekt, zu einer klaren Bildkonzeption und einer objektivierenden Darstellungsweise zurückgekehrt, nachdem die Künstlerinnen des Expressionismus auf den freien Umgang mit Farbe und Form, die Verwendung holzschnittartiger Formen und eine Vereinfachung auf markante Formelemente, sowie die Auflösung der traditionellen Perspektive gesetzt hatten.

Wir haben uns zuerst ein paar Bilder einer weiteren Sonderausstellung zum Thema angesehen, die im "Marchivum" zu sehen sind. Sie heißt "Wie Tag und Nacht - Leben in den Goldenen Zwanzigern". Dabei waren wir vom Foto "Girl Tanz" besonders angetan, aber wir waren auch erstaunt über die "beengten Wohnverhältnisse" in Mannheim in dieser Zeit.


Zur Einstimmung auf die Austellung riefen wir das Plakat der Ausstellung auf:

- Karl Bertsch, Plakat zur Ausstellung von 1925 in Mannheim.

Wir fanden es ganz ungeheuer "sachlich"! Dazu gehörte für uns der einfarbige dunkle Hintergrund. Fast symmetrisch sind darauf die beiden grünen Schriftblöcke oben und unten und die schlichte weiße Bogenarchitektur in der Mitte angeordnet. Ihre beiden Bögen treten sowohl durch die perspektivische Zeichnung, wie durch die grau unterlegten Öffnungen und ihre Schattierungen plastisch hervor. Zugleich sind sie durch keinerlei Ornamentik oder Verzierung belebt, sondern wirken nur durch die verschiedenen Abtönungen ihrer Seiten wie weiß verputzte Wände. Dabei verschattet das obere Schriftfeld wie ein im Vordergrund aufgehängtes Plakat den oberen Rand der beiden Bögen. Während das untere Schriftfeld plaktiv die schräge Ortsangabe am unteren Rand überschneidet. Um den Gegensatz zwischen diesem Plakat und einem expressionistischen Werk noch einmal vor Augen zu haben, haben wir uns angesehen

- Marianne von Werefkin, Rote Stadt (1909)

und uns gefragt, inwiefern dieses Bild die für den Expressionismus typischen plakativen, superlativischen, erregt-exklamatorischen Elemente enthält. Wir haben uns lange über das Bild unterhalten, weil sehr unterschiedliche Assoziationen aufkamen. Hat Werefkin eine ausgebrannte Stadt dargestellt, also Ruinen oder ist es eine Wüstenstadt mit dafür typischen Hausstrukturen? Sind die Bäume verbrannt oder nur winterlich kahl? Was bedeuten die knalligen Farben? Einig waren wir uns darin, dass in dem Bild eine heftige Bewegung herrscht und sowohl die Farbgegensätze (besonders der von rot und blau), als auch die flackernden Linien der Bäume und der Berge Erregung hervorruft.   

Mit dem Bild von 

- Arno Henschel, Dame mit Maske, 1928

kehrten wir dann zur Neuen Sachlichkeit zurück. Dabei hat uns am Anfang gar nicht so sehr die plakative Frauenfigur, als vielmehr der perspektivische dunkle Raum im Hintergrund beschäftigt, der uns mit seiner Kahlheit und Geradlinigkeit an das zuvor gesehene Ausstellungsplakat erinnerte. Irgendwie hatten wir den Eindruck, dass sich seine Glätte und Leere in dem Halbporträt der maskierten Frau widerspiegelt. Bei ihrer androgyne Gestalt weisen eigentlich nur die leicht hervorgehobenen Brüste auf ihre Weiblichkeit hin, während die kräftigen Schultern und Arme und auch das nur halb sichtbare herbe Gesicht männliche Züge aufweisen. Dazu passt auch der ernsthafte Gesichtsausdruck, mit dem sie durch den Betrachter hindurch zu schauen scheint. Eine Weile haben wir uns mit dem runden Gerät aufgehalten, das sie in ihrer behandschuhten Hand hält. Darin spiegeln sich die Fenster eines Raumes. Wir sahen darin ein Lorgnon, dessen Halteband sie zwischen den Fingern hält.

Wie weit der Begriff Neue Sachlichkeit in der Kunst gefasst sein kann, konnten wir dann an dem Bild von

- Otto Dix, Die Irrsinnige, 1925 (wenn man auf das Bild klickt, kann man es vollständig sehen.)

feststellen. Der Gegensatz zwischen der glatten Dame mit Maske und der innerlich zerrissenen Gestalt dieser Frau könnte nicht größer sein. Steht die Dame mit Maske in einem leeren Raum, so ist der Hintergrund bei der Irrsinnigen mit schrecklichen Chimären gefüllt, die direkt ihrem Kopf zu entspringen scheinen oder aber sie ergreifen und mit sich ziehen wollen. Äuffällig waren für uns auch die Hände dieser alternden Frau, die wie Klauen in die Luft vor ihr greifen.  

Nach diesem Bild haben wird uns der damaligen Moderne zugewendet:

- Ewald Schönberg, Scheinwerferlicht, um 1930.

Autofahren bei Nacht mit dem hellen Licht der Scheinwerfe muss damals eine noch ganz neue Erfahrung gewesen sein. Ewald Schönberg lässt uns mit im Auto sitzen und über die Motorhaube auf die leere Landstaße schauen. Kahle Bäume werden von unten angestrahlt. Die Straße wird von Strommasten begleitet und weiter hinten kommt ein Bauernhaus auf uns zu. Die Ferne liegt im Dunkel. In dieser öden und unbelebten Natur gibt es nur ganz rechts vorn einen kleinen Hinweis auf das Wiedererwachen des Lebens im Frühling: Dort blühen drei Gänseblümchen am Straßenrand. 

Auch das Selbstbildnis des folgenden Malers erzählt vom zeitgenössischen Leben: 

- Georg Scholz, Selbstbildnis vor der Litfaßsäule, 1926.

Unser Blick wurde als erstes vom Hintergrund auf der linken Seite des Bildes angezogen. Aber ist das eigentlich der Bildhintergrund? Auch wenn die Schaufensterscheibe mit dem Auto und der Zapfsäule am Straßenrand perspektivisch hinter der Litfaßsäule und dem Mann, der vor ihr steht, angeordnet ist, so nimmt sie doch  mindestens ein Drittel des Bildes ein und bildet damit den Konterpart zu dem Selbstbildnis. Das steht zwar im Vordergrund hat aber doch zugleich wenig mehr Raum im Bild erhalten, als das moderne Autohaus mit seinem luxuriösen Inhalt. Zwischen beiden rundet sich die Litfaßsäule mit ihren Werbeplakaten, deren Schriften man teilweise entziffern kann. Neben dem damaligen Luxuartikel "Mercedes" weist sie auf einen weiteren Aspekt des modernen Großstadtlebens hin, indem sie für Vergnügungen wirbt, aber auch plakativ auffordert "Sei schön". Übrigens mussten wir ein bisschen rätseln, bis wir wussten, dass die Säule mit der Aufschrift "Stellin" am Straßenrand eine Tanksäule ist. Tatsächlich war Stellin in den 20er Jahren der Name einer der fünf großen Tankstellengesellschaften der Zeit. Natürlich haben wir uns dann auch über den elegant angezogenen Maler ausgetauscht, der mit Schlips und Kragen, schwarzem Jackett mit Samtrevers und einer Melone auf dem Kopf eher wie ein Fabrikherr daherkommt als wie ein Maler. Bei Letzterem würde man ja eher eine unbürgerliche Kleidung wie z.B. einen Kittel oder wenigstens eine ungewöhnliche Kopfbedeckung erwarten. Dabei sieht uns dieser Herr durchdringend mit weit geöffneten Augen und hochgezogenen Brauen zugleich skeptisch und fragend an. 

Einen ganz anderen Aspekt des zeigenössischen Lebens stellt Fritz Tröger in seinem folgenden Bild dar: 

- Fritz Tröger, Maschinenschreiber, 1931.

Hier wirkten der Raum und der Dargestellte gleichermaßen gedrückt auf uns. In dem Raum mit dem für den Schreiber viel zu kleinen Schreibtisch entstand für uns das Gefühl, dass die Anschläge der Schreibmaschine durch einen leeren Flur mit kahlen Wänden hallen müssten. Das vergitterte Fenster in der Mitte lässt sogar an ein Gefängnis denken. Dazu passt die gebeugte Haltung des Mannes an der Maschine, dessen großer Kopf kaum zu seinem zusammengekauerten Körper passen will. Er ist ganz darauf konzentriert mit zwei Fingern einen Text zu Papier zu bringen. Dabei ist das Papier mit zwei Durchschlägen in die Maschine eingespannt. Man muss also annehmen, dass es sich um ein mehr oder weniger amtliches Schreiben handelt.  

Das letzte Thema dieser Stunde zielte - viel zu kurz - auf die Malerinnen der Zeit. Tatsächlich war kein von einer Frau gemaltes Bild in der Ausstellung von 1925 zu sehen. Malerinnen fingen damals gerade erst an sich durchzusetzen. Die heutige Ausstellung hat den weiblichen Blick mit hereingeholt. In ihr sind mit Bildern eine ganze Reihe von Malerinnen vertreten, darunter auch Lotte Laserstein, mit der wir uns beim Kunstsurfen schon ausgiebiger befaßt haben. Wir haben als ein Beispiel unter vielen Möglichkeiten das Bild angeschaut:

- Jeanne Mammen, Sie repräsentiert! In: Simplicissimus 32. Jg. Nr. 47, 1928  

Die Ähnlichkeit der Protagonistin in diesem Bild mit Marlene Dietrichs Figur der Lola in dem Film "Der blaue Engel" von 1930 war die erste Assoziation, die aufkam. Es ist diese herausfordernde Haltung zusammen mit dem Zylinderhut als männlichem Symbol, der beide Figuren miteinander verbindet. Aber wir haben auch auf die anderen Frauen im Bild geschaut, z.B. auf die ganz in ihre Bewegung versunkene Nachbarin der Hautpfigur, die gerade Papierschlangen in die Luft wirft, oder die halb angeschnittene Gestalt im Charleston-Kleid, die sich von ihr abwendet. Richtig, beim näheren Hinschauen war dann klar, dass wir auf einem Ball sind, wahrscheinlich sogar einer Silvesterfeier, den Papierschlangen in der Luft nach zu urteilen. Hinten befinden sich die Logen, aus denen Besucher und Besucherinnen auf die Tanzenden herabschauen. Vorn präsentieren sich die jungen, flotten, selbstbewussten und modernen Frauen!