Dienstag, 30. November 2021

Musée Fin de siècle in Brüssel

Alfons Mucha, La Natur - By Chatsam - Own work, CC BY-SA 3.0,
Da ich gerade in Brüssel war, haben wir dieses Mal das "Musée Fin de siècle" in dieser Stadt besucht. Es gehört zu den königlichen Museen der Schönen Künste von Belgien. Ausgestellt sind Kunstwerke vom Ende des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhundert. Das Museum wurde 2013 eingeweiht und ersetzte damals den Bereich der Kunst der Moderne. Die Geschichte der Sammlungen aber reicht bis ins Jahr 1868 zurück, als die "Société libre des beaux-arts" in Brüssel gegründet wurde, geht bis 1914, dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Sammlung des Museums umfasst Werke der meisten der wichtigsten belgischen Künstler aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, darunter auch Künstler, die der Gruppe der XX angehörten. Aber auch einige der wichtigsten ausländischen Künstler dieser Jahre sind vertreten. Außrrdem werden mehrere bildhauerische Werke, sowie Arbeiten von Architekten und Goldschmieden, darunter besonders von Künstlern des Jugendstils gezeigt. Das Museum besitzt die Gillion-Crowet-Sammlung, die bedeutende Jugendstilmöbel sowie Werke von Louis Majorelle, Alphonse Mucha, Gustav-Adolf Mossa, Fernand Khnopff, Victor Horta, Carlos Schwabe, Émile Fabry und anderen umfasst.
 
Angefangen haben wir, wie im Verlauf der Ausstellung, die chronologisch aufgebaut ist, mit Werken des Realismus, der als vorherrschende Strömung in Kunst und Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt und auf die tiefgreifenden politischen und sozialen Veränderungen der Zeit reagiert hat. Die erwähnte "Société Libre des Beaux-Arts" verschrieb sich so der Idee der „Freiheit, Aufrichtigkeit und des Realismus“. Die Künstler dieser Vereinigung legten den Schwerpunkt auf die zeitgenössische Umgebung und die Natur, also in ihren Augen die "wahre" Welt und wandten sich damit von der vorherrschen Historienmalerei ab. 

Wir schauten als erstes an:

- Charles Hermans, A l'aube (Im Morgengrauen), 1875. Brüssel 

Die Beschreibung des Bildes zeigte uns schnell, dass zwei Personengruppen sich in diesem Bild diametral gegenüberstehen: der - zuerst als Bräutigam titulierte, aber natürlich nur in der zeitgenössischen Mode gekleidete - betrunkene Herr mit Zylinder, an dem zwei aufwendig gekleidete junge Frauen hängen, die ihn in verschiedene Richtungen zerren, auf der einen Seite und die Gruppe der schlecht gekleideten Arbeiter und Handwerker, die müde und demütig wirken, auf der anderen. Im Schatten der Tür und zugleich im Hintergrund scheint ein weiteres Paar die armen Leute wenigstens wahrzunehmen, während die Gruppe der "Reichen und Schönen" im Vordergrund ganz und gar mit sich selbst beschäftigt ist. Den Abgrund, der beide Gruppen trennt, kann man wohl kaum deutlicher darstellen, wurde uns klar. Und natürlich war auch die gesellschaftliche Spaltung unserer Zeit ein Thema bei diesem Bild.

Das zweite Bild wird in den Rahmen des Sozialen Realismus eingeordnet, eine Strömung, die als Nachfolger des Realismus gilt und eine noch größere Sensibilität für die sozio-historische Realität als zuvor aufweisen soll. Ein Vorbild für die Werke dieser Zeit war

- Charles de Groux, Die Ährenleserinnen (Les glaneuses), 1856/1857 

Beim genauen Hinsehen erkannten wir in der Gruppe der drei Frauen rechts die unterschiedlichen Lebensalter, die damit zugleich dargestellt sind, aber auch die Erschöpfung besonders der am Boden sitzenden Frau - könnte sie vielleicht sogar schwanger sein, war ein Frage, die natürlich offen bleiben musste. Zugleich aber rührte das Bild auch an eigene Erinnerungen, denn Johannes erwähnte, dass auch er in seiner Jugend auf die Felder ging und Ähren auflas, aus denen dann zuhause die Körner geklopft wurden, die man in der Kaffeemühle zu Mehl mahlte - was für eine mühevolle Arbeit für sicher nur geringen Ertrag! Sowohl der Durst, den der große Junge in der Mitte bei dem kleineren Mädchen stillt, als auch die gebückte Haltung wurde so im Bild erlebbar. Auch der Hintergrund beschäftigte die Gedanken: Sind da nicht die Gebäude einer großen und reichen Hofhaltung zu sehen?

Ganz anders das folgende Bild, mit dem der belgische Ausnahmekünstler James Ensor die Bildfläche betrat. Er wurde von den Zeitgenossen nicht verstanden und gilt heute als ein Vorläufer der modernen Kunst. Anfangs malte er realistisch, doch ab 1883 flossen bei ihm Realität, Phantasie oder Ironie ineinander. Seine Hauptmotive bildeten Masken und Skelette, wobei seine Bilder oft Spott auf die gute Gesellschaft beinhalteten.

- James Ensor, Die einzigartigen Masken (Les masques singuliers), 1892 (Achtung zur Zeit mit wegklickbarem Covid-Banner!) 

Dieses Bild blieb uns mehr oder weniger unverständlich, außer dass wir die unterschiedlichen Masken erkannten, die sich da in einem Zimmer zusammendrängen. Dagegen gibt es zu dem Bild

- James Ensor, Skelette im Atelier (Squelettes à l'atelier), 1891 

eine ganze Geschichte zu erzählen. Übersetzt wird der Titel auch mit "Skelette kämpfen um einen geräucherten Hering". Der Bückling heißt auf Franzöisch "hareng-saur". Da das im Französischen ähnlich wie "Art Ensor", also Ensors Kunst, klingt, verwendete der Künstler das Bild des Bücklings als Symbol seiner Kunst. Im Bild streiten sich zwei Skelette um ihn, indem sie ihn mit den Zähnen zu zerreißen versuchen. Ihre Interpretation als zwei Kritiker, die Ensors Kunst mit Worten in Stücke reißen, liegt nache. Noch seine erste große Ausstellung, 1898 in Paris, war ein Misserfolg, wobei die Kritiker ihn "verrückt, dumm und böse" nannten.
 
Als nächstes wandten wir uns dem Symbolismus zu, der schon bei unserer Betrachtung der Werke des litauischen Malers und Komponisten Čiurlionis eine Rolle gespielt hatte. Diese Strömung in Literatur und bildender Kunst, die 1886 in Paris definiert wurde, forderte, die Kunst solle die Geheimnisse der Seele und der Welt der Symbole erforschen, in Verbindung mit Träumen, Erotik, Angst und sogar esoterischen Lehren. Symbolisten suchten ihre Wurzeln im Unbewussten noch bevor Freud das Unbewusste benannte und zu analysieren begann.

- Fernand Khnopff, Streicheleinheiten (Des caresses), 1896 

Das Bild von Fernand Khnopff kannten einige schon. Beim Betrachten blieben wir erstmal bei dem Mann stehen, der so unbeeindruckt davon wirkt, dass eine Tierfrau sich an ihn schmiegt, Wobei schon da die Frage aufzuwerfen ist, ob der Leopard oder die Hyäne mit dem Menschenkopf eine Frau oder ein Mann ist. Ganz eindeutig fanden wird das nicht. Unklar ist auch, was der Mann mit seiner linken Hand macht, krault er das Tier unter dem Bauch, so dass es sich so zärtlich an ihn lehnt und mit geschlossenen Augen die Berührung genießt? Und was steht auf der hellen Rückwand zu lesen - tatsächlich unerklärliche Zeichen oder? Wofür stehen die beiden Säulen vor der roten Landschaft im Hintergrund, wiederholen sie nur als Symbole das Paar im Vordergrund? Oder wie es ein Interpret fasst: Symbolismus enthält eine Atmosphäre des ungelösten bildlichen Geheimnisses!

Auf eine andere Art in seelische Tiefen gehend erschien uns das Bild von 

- Léon Spilliaert, Badende (Baigneuse), 1910

Die krasse diagonale Teilung des Bildes in einen Raum im unteren Bereich, der einer von geometrisch eindeutigen Stufenfolge eingenommen wird, und dem oberen Bereich, der in ein flimmerndes Liniengewirr aufgelöst ist, fiel sofort ins Auge. Auch die Trennung in festen Boden und bewegtes Wasser, die damit impliziert ist, war einfach festzustellen. Und dann sitzt da die junge Frau in Badeanzug und mit Badekappe genau auf der Brüstung zwischen festem Boden, klarer Geometrie, Stabilität und dem unruhigen Durcheinander des Wasser und kann sich nicht entscheiden, ob sie in diese Unruhe und Unsicherheit hineinspringen soll: eine wahrlich schwindelerregende Perspektive, wie ein Interpret zu diesem Bild schreibt. 

Ganz anders dann die Werke des Jugendstils, denen es um die Verbindung von Schönheit und Natur geht, wie bei der Plastik

- Alphonse Mucha, Die Natur (La nature), 1899-1900,  

in der die Natur von der Büste einer jungen Frau mit ebenmäßigem Gesicht und runden Brüsten verkörpert wird, die durch die grünen Ohrgehänge und den grünen Edelstein an der Spitze ihres kronenartigen Diadems ausgezeichnet wird, und in unseren Augen in ihrer Makellosigkeit einem Götter- d.h. Göttinnenbild ähnelt.