Leider ist die Ausstellung "European Realities" im Museum Gunzenhauser in der diesjährigen Kulturhauptstadt Chemnitz schon am 10. August zuende gegangen. Das heißt aber nicht, dass man die Bilder nicht noch im Netz finden könnte. Da wir schon einmal vor nicht allzu langer Zeit die Neue Sachlichkeit in Deutschland als Kunstströmung thematisiert haben, war es besonders interessant in der Chemnitzer Ausstellung die Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre noch einmal im größeren Rahmen der europäischen Kunst zu betrachten.
Die Bilder der Ausstellung erzählen von Armut und Elend, vom wirtschaftlichen Aufschwung und von kultureller Blüte, von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt, von Großstadt und Nachtleben, Emanzipation und Diversität. Ihre Themengebiete sind: Künstler:innen im Selbstporträt; Großstadt und Nachtleben; Menschenbilder; Emanzipation und die Neue Frau; Neue Stillleben; Sport und Körperkultur; Arbeit in Industrie und Wissenschaft; Armut und Verfall.
Nach dem Ersten Weltkrieg konnten Frauen in Deutschland erstmals offiziell an den Akademien Kunst studieren. Die neuen Künstlerinnen inszenierten sich in ihren Selbstbildnissen gern selbstbewusst mit Kurzhaarschnitt als "Neue Frau". Betrachtet haben wir
- Kate Diehn-Bitt, Selbstbildnis als Malerin, 1935.
Aufgefallen ist uns natürlich, dass die Malerin sich hier fast männlich inszeniert hat: Sie trägt eine Bluse, die auch als Oberhemd gelten kann und schaut den Betrachter (oder den Spiegel, in dem sie sich betrachtet) mit einem kühlen und forschenden Blick an. Ihr Gesicht wirkt dabei männlich herb, was durch die kantige Malweise deutlich unterstrichen wird. Etwas überlegen mussten wir, was sie in den Händen hält. Dass sich in ihrer Rechten ein roter langer Pinsel befindet, ist leicht zu erkennen, dass in der Linken ebenfalls ein Pinsel mit silberner Einfassung der Pinselhaare steckt, sieht man dann in der Vergrößerung.
Beim Thema "Großstadt und Nachtleben" geht es um die sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre. Die Kriegserfahrung hatten deutliche Folgen, die als Hedonismus und Exzess, Sucht und Eskapismus beschrieben werden. Ein neues Nachtleben entwickelte sich in den Großstädten und die Malerinnen und Maler reagierten darauf. Angesehen haben wir
- William Roberts, Die Jazzparty (Der Tanzklub), 1921.
Es war gar nicht so leicht zu klären, wer und was darauf dargestellt, so dicht scheinen die Menschen in diesem Raum durcheinander zu wogen. Nur rechts unten herrscht etwas mehr Ruhe in der Szene der vier Männer um den runden Tisch herum, aber auch sie schein in lebhafter Auseinandersetzung begriffen zu sein. Während direkt neben ihnen das Grammophon mit seinem großen rötlichen Trichter die Luft mit Musik füllt. Aber was ist hinter den Sitzenden los? Ein stehender Mann mit offenem Mund hält die Hand an sein Ohr, als ob er singt oder sogar schreit. Links von ihm sitzt ein Paar, bei dem nicht klar ist, ob die Frau so eng umarmt sein will oder nicht, und hinter ihnen steht ein weiterer Mann, während auf der linken Seite des Bildes ein dichte Menge tanzender Paare und eine - nicht klar als weiblich oder männlich auszumachende - Gestalt in ekstatischer Haltung zu sehen sind, die ein wenig so wirken als ob sie von der Musik aus dem Lautsprecher weggeweht würden. Ihrer lebhaften Bewegung scheinen die bunten Farben der Kleider zu entsprechen, während der Raum durch das Grün des Hintergrundes und das Rot des Bodens vorgegeben wird.
Ganz anders und doch auch ähnlich empfanden wir das Bild von
- Milada Marešová, Dobročinný bazar (Wohltätigkeitsbasar), 1927. (Hier ist noch ein weiteres größeres Bild, allerdings scheinen die Farben darauf nicht ganz dem Original zu entsprechen.)
Auch dieses Bild zeigt eine dicht gedrängte Menschenmenge und man muss genau hinschauen, weil die Frauen und Männer einerseits alle ähnlich aussehen und andererseits doch ganz unterschiedlich sind. Die Künstlerin hat genau beobachtet, wie sich die "bessere" Gesellschaft benimmt, wenn sie in großer Zahl aufeinander trifft, man zeigt sich, man begrüßt sich, man macht Konversation und wendet sich gleich wieder jemand anderem zu.
Ein weiteres Bild dieses Themenbereichs widmet sich einem völlig anderen Sujet:
- Meredith Frampton, A Game of Patience (Ein Patiencespiel), 1937.
Wir haben uns am Anfang gefragt, in was für einem Raum die dargestellte Frau sitzt. Sie hat auf der einen Seite eine offene Landschaft mit einem reifen Kornfeld und einer gepflügten Fläche hinter sich, sitzt aber vor einer Wand, die einem Pfeiler ähnlich sieht und mit Stuck in Rocaillenform geschmückt ist, während sich auf ihrer linken Seite ein Raum zu öffnen scheint. Damit sitzt sie an einen von der Architektur hervorgehobenem Platz vor einem runden Tisch und hebt mit einer fast gezierten Haltung eine Spielkarte hoch, von der nur die Rückseite sichtbar ist. Sie selbst könnte das Bild auf der Vorderseite erkennen, schaut aber darüber hinweg in die Ferne. Sieht sie etwas? Wartet sie? Sinnt sie über das Bild nach? Will sie gleich die nächste Karte studieren, nach der ihre Hand schon greift? Und was bedeuten die Karten, die in einem Kreis auf dem Tisch liegen und nur den Pik-König zeigen. In der Beschreibung zu dem Bild heißt es, dass das Stillleben auf dem Tisch auf Liebe und Sexualität verweist: "Ähren sind ein gängiges Fruchtbarkeitssymbol, Äpfel ein Sinnbild der Erbsünde und rote Nelken ein Zeichen der (leidenschaftlichen) Liebe, wie sie auch in Ehepaarporträts der Renaissance vorkommen. Der Pik-König, der in der Kunst des weissagenden Kartenlegens für Unglück, Trauer oder enttäuschte Liebe steht, könnte der Schlüssel für das Verständnis dieses Bildes sein. Welches Blatt sich in ihren Händen versteckt, wird die Zukunft weisen." (Quelle: ARTinWORDS, Alexandra Matzner von 2. Mai 2025)
Zum Themenblock "Menschenbilder" haben wir zwei Bilder verglichen:
- George Grosz, Ohne Titel (Konstruktion), 1920
und
- Heinrich Maria Davringhausen, Der Schieber, 1920/1921
Georg Grosz Gemälde gehört zu seinen frühesten Werken, in denen vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit gefunden hat. Wir haben eine ganze Weile über die Gebäude gesprochen, die in diesem Bild in verschiedenen Perspektiven zueinander stehen. Dass ganz hinten eine Fabrik steht mit einem rauchenden Schlot, blieb unbestritten. Doch was stellt das Gebäude links dar mit seinen großen Schaufenstern im Erdgeschoß und im ersten Stock? Und handelt es sich im Vordergrund rechts wirklich um ein Wohngebäude? Immehin kann man in dem angeschnittenen Fenster oben eine schief hängende Jalousie erkennen, wenn man das Bild stark vergrößert. Und soll die Figur im Vordergrund einen Menschen darstellen oder ist sie nur ein abstraktes Standbild in einer völlig menschenleeren Umgebung, in der es auch keinerlei weitere Anzeichen einer belebten Natur gibt, denn außer Menschen fehlen hier auch Tiere und Pflanzen.
Der "Schieber" in dem Bild von Dabringhausen ist dagegen ein Mensch mit blauen Augen und scharfen Gesichtszügen, der direkt durch den Betrachter hindurchblickt. Er sitzt in angespannter Haltung, so als ob er gleich aufspringen wollte, an einem Schreibtisch, der mit den Symbolen seiner Welt bestückt ist: Telefon, Zigarrenkiste, Rotwein, Papier, Tintefass mit Füller und Zirkel. Aber auch er befindet sich in einer kalten und unnatürlichen und ansonsten völlig menschenleeren Umgebung, wobei der verschachtelte Innenraum mit seiner Deckenöffnung uns einige Rätsel aufgegeben hat.
Da nicht mehr viel Zeit blieb, haben wir uns nur noch einem Bild aus dem Bereich "Arbeit in Industrie und Wissenschaft" gewidmet, denn nach dem Krieg, als die USA sich industriell stärker als Europa entwickelte gab es eine neue Faszination für Industrie und Fortschritt: Bilder von Industrieanlagen und -städten betonten Funktionalität und Schmucklosigkeit. Hohe Schornsteine symbolisierten dabei Modernität. Bei dem Bild
- Oskar Nerlinger, An die Arbeit, 1930
war es erstaunlich, wie unterschiedlich wir es auf den ersten Blick wahrgenommen haben. Die einen sahen sofort, die ununterbrochene Reihe blauer Figuren auf der schräg durch das Bild laufenden hohen Brücke, während für die anderen die beiden diagonalen hohen Schornsteine das Hauptmotiv bildeten. Durchkreuzt werden die Linien noch einmal durch die drei roten Linien bzw. Seile, an denen kastenförmige schwarze Wagen sich durch das Bild ziehen. Mit den gebeugt einherziehenden Arbeitern in einer von Rauch geschwängerten am Reißbrett konstruierten Umgebung macht dieses Bild die neuen Arbeitsverhältnisse für uns sichtbar.
Ein Hinweis noch am Schluss: Elf Highlights der großen Ausstellung stellt der "mdr" unter dem folgenden Link vor: https://www.mdr.de/kultur/ausstellungen/chemnitz-european-realities-kunst-highlights-100.html