Sonntag, 10. August 2025

"L'art est dans la rue" - Das goldene Zeitalter der Plakatkunst

Screenshot der Ausstellunsseite des Musée d'Orsay
Vom 18. März bis zum 6. Juli lief im Pariser Musée d‘ Orsay die Ausstellung "L'art est dans la rue", die einen Einblick in das goldene Zeitalter der illustrierten Plakate gab. Gezeigt wurden Werke aus der Bibliothèque Nationale de France, die eine riesige Plakatsammlung besitzt.

Wir haben uns zuerst eine Reihe von Überblicksfotos der Ausstellungsräume angeschaut, auf denen man neben den Plakaten u. a. auch eine Presse zur Herstellung von Lithografien und verschiedene Plakatständer entdecken kann. Die am Ende des 18. Jahrhunderts erfundene Lithografie war im 19. Jahrhundert das Druckverfahren, das die industrielle Fertigung von Drucksachen und damit auch von riesigen Plakaten zu günstigen Preisen ermöglichte. Wer mehr darüber erfahren will sei auf das Stichwort bei Wikipedia verwiesen.  

Ab den 1880er Jahren verwandelten sich die Straßen von Paris in Galerien unter freiem Himmel. Plakate waren auf Mauern, Palisaden, Kiosken, Litfaß-Säulen, öffentlichen Verkehrsmitteln und sogar auf "Sandwich-Männern" angebracht. Dabei gelten besonders die 1890er Jahre als eine Zeit der "Plakatmanie", d. h. der Begeisterung für so genannte künstlerische Plakate. In der Ausstellung wird dabei die rethorische Frage gestellt, ob Plakate Kunstwerke oder Zeugnisse der Vergangenheit sind, wobei die Antwort lautet, dass sie als beides angesehen werden können. Sie können als Spiegel der damaligen Gesellschaft gelesen werden und zeigen zum Beispiel den Aufschwung des Handels, indem sie verschiedenste Konsumgüter und die neu entstandenen großen Kaufhäuser anpreisen. 

Wir haben das Bild des Kaufhauses 

- La Belle Jardinière (Lth. F. Sorrieu, Imprimerie Lemercie & Co) 

aufgerufen. Das große Kaufhaus bot fertige und massenproduzierte Kleidungsstücke zu einem Preis an, der an die neuen Kunden der Mittelklasse angepasst war. Uns fiel als erstes die belebte Brücke und die Straße vor dem großen Gebäude auf der rechten Seite auf. Ein Pferdeomnibus, verschiedenste Kutschen, ein Reiter und jede Menge Leute tummeln sich dort. Ganz viele zieht es offenbar zu den Schaufenstern und dem Haupteingang des Geschäfts, über dessen Portal man den Namenszug lesen kann. Und das Geschäft gibt es nicht nur in Paris, auch in anderen Städten kann man es schon finden, wie unter dem Bild zu lesen ist. Dabei sind die seitlichen Beschriftungen sowohl an französische wie an englische Kunden gerichtet. 

Während dieses Plakat ein fast fotografisches Bild der Realität zu bieten scheint, erregt die folgende Werbung für ein weiteres Kleidergeschäft mit der Zeichnung eines riesigen Auges die Aufmerksamkeit: 

- Jean Alexis Rouchon, Illustrateur, Plakat "A L'OEIL" vêtements rue de Rivoli et Malher. 

Das Geschäft heißt "Zum Auge" und die Schrift spielt mit diesem Wort, wenn über dem großen Bild eines Auges der Geschäftsname steht und darunter "On donne à l'oeil", also "man gibt vor das Auge" zu lesen ist. Ein schwarzer Gehrock für 23 Fr., schwarze Hosen von guter Qualität für 12 Fr. und eine schwarze Weste für 6 Fr., also ein komplettenr Anzug für 41 Fr. wir darunter angepriesen. 

Touristische Reisen waren damals für das wohlhabende Bürgertum noch eine neue Attraktion, für deren Ziele ebenfalls Plakate werben konnten:

- Henri Gray, Le Touquet Paris-Plage, 1900 (Größe 190 x 94 cm) . 

Der Ort, der auf diesem Plakat beworben wird, liegt an der Küste des Ärmelkanals, und hat erst 1882 den Namen "Paris-Plage" bekommen. Auf dem Bild ist er als weiter leerer Sandstrand zu sehen. Im Vordergrund steht eine junge Frau mit einem aufgerollten Segel in den Händen. Einer ihrer beiden nackten Füße ist auf einen umgedrehten Korb aufgestellt. Sie trägt einen groben rot-schwarz gestreiften Rock, ein mit Tauen zusammengebundenes blaues Mieder mit weißer Bluse und ein braunes Kopftuch; im Gegensatz zu den mit dem Plakat angesprochenen Städterinnen ist sie also in die traditionelle Tracht der Gegend gekleidet und mit den Attribute einer Fischerin dargestellt. So wird mit dem Plakat zugleich die neue Kluft zwischen Stadt und Land deutlich. Touristisch wird damit ein bestimmter Landstrich zusammen mit seinen Bewohnern als Sehnsuchtsort des "natürlichen" Lebens beworben. Nicht ganz so auffällig ist der Hinweis, dass man in nur vier Stunden von Paris aus mit der Bahn dorthin kommt. Uns fiel dabei auf, dass dieses Plakat im eigentlichen Sinne nicht wirklich plakativ wirkt, sondern eher einem Gemälde ähnelt. Damit kam die Frage auf, was eigentlich das "Plakative" eines Plakates ausmacht und wir schauten uns dazu an:  

-  Leonetto Cappiello, Chocolat Klaus, 1903 (Größe 158,5 x 118 cm).

Der Auftrag zu diesem Plakat kam von der Firma Chocolat Klaus aus der Schweiz, die damit für ihre Luxusprodukte im Bereich der Confiserie warb. Mit seinen neuen Fabriken, mit denen er zur mechanischen Herstellung seiner Waren überging und sogar Dampfkraft dafür einsetzte, war der Firmengründer Jacques Klaus nicht nur technologisch ein Vorreiter. Auch in der Werbung ging er durch die Nutzung von Plakaten in Verbindung mit Aufträgen an zu seiner Zeit moderne Künstler neue Wege. 

Dabei gilt der italienische Karikaturist Leonetto Cappiello heute als einer der Erfinder des modernen Plakats. Die Adressaten der frühen Plakatekünstler wie Chéret, Mucha, Toulouse-Lautrec und Steinlen waren noch Fußgänger und Menschen in Pferdekutschen. Sie hatten genug Zeit, die Plakate zu betrachten, entsprechend konnten die Bilder mit vielen Details ausgestattet sein, wie das obige Plakat für den Pariser Strand. Ende des 19. Jahrhundert kamen immer mehr Automobile auf die Straßen und die Geschwindigkeiten wurden höher. Plakate mussten schneller "lesbar" sein. Das fiel uns auch beim Betrachten des Bildes für die Firma Klaus auf, das uns schon wegen seiner auffälligen Farbwahl beeindruckte. Genauso wie der Künstler in sich einheitliche Farbflächen verwendet, so sind auch seine Figuren klar und eindeutig umrissen und schon von Weiten gut erkennbar und schnell erfassbar. Gleichzeitig sind sie sehr lebendig und mitreißend gestaltet. Die grün gekleidete Frau und ihr Pferd tänzeln und springen fröhlich durch das Bild. Es ist ein "glückliches Paar", das auf die Firma Klaus aufmerksam macht. Übrigens erschuf Capiello sozusagen die ersten Markenlogos: Die Firma wurde tatsächlich als die mit der "Schokolade des roten Pferdes" bekannt und damit wagte es der Künstler es als erster, ein Produkt anzupreisen, ohne es abzubilden.

Mit dem nächsten Plakat kehrten wir noch einmal zu dem früheren Plakatstil zurück und schauten uns zwei Werke des schon genannten Jules Cherét an. Zugleich trat damit die Thematik der Werbung für kulturelle Veranstaltungen, also für Theaterstücke, Bühnenkünstlerinnen und Vergnügungsorte in den Vordergrund: 

- Jules Chéret, Les Hanlon Lees, Do, mi, sol, do, Folies Bergère, 1878  

Das Plakat wirbt für die fünf Brüder Hanon, die sich "Les Hanlon-Lees" nannten und heute fast vergessen sind, obwohl sie das Sicherheitsnetz für Trapezkünstler erfanden. Sie vermischten als Turner Akrobatik und Pantomime zu eigenen komödiantischen Stücken. In den Folies Bergère sind sie offenbar mit einem Musikstück aufgetreten, wie die tänzerische Pose des "Dirigenten" und die Notenschrift  am unteren Rand zeigen. Wir haben uns eine Weile mit dem Hintergrund beschäftigt, der ein ganzes Orchester in verschiedenen bewegten Posen zeigt, während die Eisenbahn über den Noten vielleicht auf viele Reisen hinweist, denn die Gruppe trat erfolgreich in ganz Europa und Amerika auf.   

Die Werbung für das Moulin Rouge nutzt ganz ähnliche stilistische Mittel:

-    Jules Chéret, Bal du Moulin rouge tous les soirs et dimanche jour..., 1889.

Uns fiel zuerst die junge Frau im gelben Kleid auf dem dunklen Pferd ins Auge, die uns an das Motiv auf dem Plakat für die Firma Klaus erinnerte. Ganz anders als dort, ist die Binnenzeichnung bei dieser Figur ausgesprochen vielfältig. Fast genauso auffällig fanden wir die rote Mühle, das Wahrzeichen des Vergnügungsviertels auf dem Montmatre. Nach und nach erkannten wir dann, dass sich ein ganzer Kreis von leicht bekleideten Frauen auf Pferden in verschiedenen Posen um die Mühle zu drehen scheint, wobei der Künstler auch hier die meisten Figuren als Schatten skizziert hat. 

Die neue Plakatkunst hat in Paris das Aussehen der Straßen verändert. Dem sind wir mit den letzten Bildern nachgegangen. Als erstes haben wir uns ein historisches Foto angeschaut: 

- Gabriel Loppé, Colonne publicitaire dans la nuit, vers 1889.

Gerätselt haben wir, ob der Pfeiler mit den Plakaten von Innen angestrahlt worden ist. Weil aber damals noch nicht auf Glas gedruckt werden konnte und bei dem Blick auf das nächste Bild, wurde klar, dass die Beleuchtung von oben kommt. Für die damaligen Stadtbewohner sicher eine Neuerung, wenn man daneben die niedrigen Straßenlaternen sieht. Besser erkennen kann man das nächtliche Aussehen der Plakatsäulen auf dem folgenden Gemälde: 

-  André Devambez, La Charge, vers 1902, Musée d'Orsay,   

Beim genaueren Hinsehen wurde deutlich, was in der Beschreibung des Musée d'Orsay zu lesen ist, dass nämlich eine Konfrontation auf der Straße zwischen der Staatsmacht und Demonstranten dargestellt ist. Sie findet auf dem Boulevard Montmartre statt. Man demonstrierte damals tatsächlich abends nach der Arbeit. Offensichtlich geht die Polizei methodisch und effizient vor. Wobei der Maler die Vogelperspektive gewählt hat und dadurch so viel wie möglich von dem Geschehen einfängt, uns als Betrachter aber sozusagen draußen vor lässt. Dabei fiel uns auf, dass die Menschen deutlich geteilt sind, in die einen, die auf den hell erleuchteten Bürgersteigen flanieren, zuschauend stehen geblieben sind oder ein Straßencafé besuchen, und den anderen, die vor den aufmarschierenden Polizisten fliehen. Das Gemälde hing übrigens lange Zeit im Büro des Präfekten Chiappe (1927-1934), der ein Ordnungsfanatiker und Spezialist für die Unterdrückung von Straßendemonstrationen war. 

Einen nicht ganz unähnlichen Gegensatz erkannten wir im letzten Bild dieser Serie:  

- Louis Robert Carrier-Belleuse, Ausbessern der Töpfe, 1882 

Vor der Plakatwand steht ein bürgerliches Paar, das in unterschiedlicher Haltung die Plakate eingehend begutachtet. Sie sind total desinteressiert an dem Geschehen auf der linken Seite des Bildes, das von einen schmalen Unterstand eingenommen wird, an dem verschiedenen metallene Gefäße hängen und stehen. In dem kleinen Gehäuse sitzt ein junger Mann und arbeitet an einem kupfernen Kessel. Uns fiel auf, dass einerseits so die Kluft innerhalb der damaligen Gesellschaft verbildlicht wird. Andererseits zeigt aber die Plakatwand mit ihren bunten Bildern, die für Vergnügungsveranstaltungen und Konsum werben, deutliche Zeichen von Verfall und Vergänglichkeit.