Dienstag, 19. Juli 2022

"Paul Gauguin - Why are you angry?"

Paul Gauguin, Am Strand (Quelle)
In der Nationalgalerie Berlin waren bis zum 10. Juli 2022 Bilder von Paul Gauguin zu sehen, die er auf der Südseeinsel Tahiti gemalt hat. Ihnen wurden zeitgenössische Werke von Künstlerinnen und Künstlern aus dem Südseeraum gegenübergestellt. Die Ausstellung beruhte auf einer engen Kooperation mit der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen, die eine umfangreiche Gauguin-Sammlung verwahrt. 

Man muss dazu wissen, dass die bekanntesten Gemälde von Gauguin in den Jahren zwischen 1891 und 1901 auf der Südseeinsel Tahiti entstanden, wo der 1848 ­in Paris geborene Künstler im Jahr 1903 auch starb. Der Maler verließ 1891 Paris. Zu diesem Zeitpunkt lebten seine Frau und seine fünf Kinder schon in Dänemark, dem Heimatland seiner Frau. 

Der Maler, der in Paris wenig Erfolg hatte, stellte sich Tahiti wie die meisten Europäer als exotisches Paradies vor: Die „glücklichen Bewohner eines unbeachteten Paradieses in Ozeanien kennen vom Leben nichts anderes als seine Süße. Für sie heißt Leben Singen und Lieben“, schrieb er Ende 1890 dem dänischen Maler Jens-Ferdinand Willumsen (Zitat von der Website der Ausstellung). Aber die Realität sah anders aus. Tahiti war seit 1880 französische Kolonie. Christianisierung, Handel und Kolonialherrschaft hatten das Leben der Einwohner gravierend verändert. "In der Hauptstadt Papeete lebte die einheimische Bevölkerung in ärmlichen Wellblechhütten, westliche Kleidung hatte die traditionelle Tracht ersetzt, Religion und Traditionen waren von den Missionaren unterdrückt worden." (Zitat von der Ausstellungsseite)

Gauguin mietete eine Hütte in dem Dorf Mataiea, 40 km von Papeete entfernt und lebte bald mit der 13-jährigen Tahitianerin Téha'amana (genannt auch: Tehura) zusammen, die ihm häufig als Modell diente. Es entstanden zahlreiche Gemälde mit tahitianischen Motiven.

Wir haben uns als erstes sein Bild
- Frauen von Tahiti oder Am Strand (1891) 

angeschaut und sind über die beiden unterschiedlichen Bekleidungsstile der beiden Frauen gestolpert: Der Frau auf der linken Seite mit ihrem rot-weiß gemusterten Rock und dem weißen Hemd, die sich vom Betrachter abwendet, sitzt rechts eine junge Frau gegenüber, die ganz in ihr rosafarbenes langärmeliges Gewand eingehüllt ist, so dass ihre Körperformen nicht mehr wahrnehmbar sind. Auf einem ein Jahr später entstandenen Bild wiederholt Gauguin das Motiv

Gauguin, Parau api (1892) Albertinum Dresden 

und hier zeigt er auch die zweite Frau in dem einheimischen bunten Wickelrock und das heißt auch wesentlich freier bekleidet, als die europäischen Frauen sich damals irgendwo zeigen durften. Denn in dieser Zeit waren in Europa enge Taillen und fußlange Kleider üblich und es galt als frivol, wenn auch nur ein weiblicher Fuß oder sogar ein Stück vom Bein zu sehen war - wie zum Beispiel in der:

- Illustration aus: Der Bazar, Illustrirte Damen-Zeitung. September 1894

Ein weiteres Frauenbild von Gauguin aus dem Jahr 1891 zeigt noch einmal eine "Südseeschönheit", wieder in einem - diesmal blauen - "Missionarskleid" vor einem je zur Hälfte roten und leuchtend gelben blumengemusterten Hintergrund:

- Vahine no te tiare (Frau mit Blume), (1891) 

Wir haben uns dabei etwas länger über unsere Südsee-Paradies-Vorstellungen ausgetauscht und sind auf eine ganze Reihe von Stereotypen gekommen. Ute fiel ein Lied von Willi Fritsch ein, dessen naiv-dümmlicher Text ganz gut zu solchen Stereotypen passt: "Ich lass' mir meinen Körper schwarz bepinseln", in dem es weiter heißt: "Und fahre nach den Fidschi-Inseln ... Dort ist noch alles pardiesisch neu ... Ich trage nur ein Feigenblatt mit Muscheln ... Und gehe mit 'ner Fidschipuppe ... Von Bambus richte ich mir eine Klitsche ein, Ich bin ein Fidsche, will ein Fidsche sein." (Den Film "Der Einbrecher" von 1930 aus dem das Lied stammt gibt's hier.)

Typisch für die "paradiesischen" Frauenbilder ist auch, dass Blumen - im Haar, in den Händen oder als Stoffmuster - und zwar besonders die üppigen Blüten des Hibiskus eine wichtige Rolle spielen und die ungebundene Natürlichkeit symbolisieren. Die Hibiskusblüte bildet sozusagen die Verkörperung des pazifischen weiblichen Körpers, der mit freier Sexualität und Überfluss verbunden wird.

Zu dem Thema dieser Blüte gibt es in der Ausstellung das Werk einer zeitgenössischen neuseeländisch-australischen Künstlerin zu sehen:

- Angela Tiatia, Hibiscus Rosa Sinensis (2010) 

Das Bild stammt aus einem Kurzvideo (1 Minute, 31 Sekunden, leider nicht online zu finden), laut Beschreibung verfolgt darin die Kamera den Körper der Künstlerin, die mit einer roten Hibiskusblüte im Mund aus tropischem Grün auftaucht. Beim Close-up auf ihr Gesicht schaut sie "kraftvoll und unbeweglich" ihre Zuschauer direkt an und beginnt, die Blume aufzuessen. Dieser Augenblick ist in dem Standbild zu sehen, in dem sie uns als Betrachter eindringlich über die Blume hinaus anblickt. Zugleich wird klar, dass die Künstlerin damit einem - wie es auf der Ausstellungseite heißt - "ikonischen pazifischen Motiv" - also der "üppigen Hibiskusblüte" sozusagen den Garaus macht! 

Wir sind weitergegangen zu dem Bild 

Arearea no Varua Ino /Die Vergnügungen des Bösen Geistes (1894) 

Auch hier fanden wir die Rückenfigur der sitzenden Frau, die sich mit dem rechten Arm am Boden aufstützt wieder, die Gauguin schon in seinen frühen Tahiti-Bildern gemalt hat. Doch diesmal schaut sie nicht mit fast geschlossenen Augen zum Boden, sondern blickt mit nach unten gezogenem Mundwinkel geradeaus in die Ferne, während die Frau neben ihr sich von ihr abgewendet hat und am Boden liegend ihre Haare zu raufen scheint. Die beiden großen Gestalten im Vordergrund trennt ein kräftiger sonnenbeschienener Baumstamm vom Hintergrund, wo man zwei deutlich kleinere Männer - in der Ferne - stehen sieht. Anscheinend sind sie in eine Auseinandersetzung verwickelt. Malt Gauguin hier also "Die Vergnügungen des Bösen Geistes", der sich über Streit und Wut freut? Und wer ist die dunkle Gestalt auf der linken Seite - könnte es eine der monumentalen Steinfiguren sein, die sich bei den Kultplätzen der Einwohner fanden? Und symbolisiert das blaue Gesicht auf den beiden flügelähnlichen rosa Wölkchen den bösen Geist ?

Für die Ausstellung wurde die Künstlerin Yuki Kihara aus Samoa um einen Beitrag gebeten. Sie arbeitet mit den Dingen, die ihr in ihrer Heimat Samoa zur Verfügung stehen und sie wendet sich explizit an das samoanische Publikum. Sie entwickelte und produzierte eine fünfteilige Fernsehserie mit dem Titel "First Impressions: Paul Gauguin". Dafür trommelte sie ihre Freunde zusammen, zeigte ihnen verschiedene Gemälde von Gauguin und ließ sie darüber diskutieren. Wobei anzumerken ist, Paul Gauguin kein großer Name in Samoa ist. Europäische Kunstgeschichte gehört nicht zum Schulstoff. Außerdem ist die Künstlerin eine "fa'afafine". So werden auf Samoa Menschen benannt, die biologisch männlich sind, aber sozial als Frauen erzogen und als solche betrachtet werden. Da sie - in Samoa geboren - von einer Samoanerin und einem Japaner abstammt, verkörpert sie sozusagen eine wilde Mischung verschiedener Identitäten. Ihre und ihrer Freunde Ideen zu den Bildern Gauguins hat sie in "betont trashiger Kulisse" filmen lassen und nimmt damit den in Europa berühmten Bildern viel von ihrer musealen Aura. Einen Eindruck davon gibt der Teaser:

- Yuki Kihara, Teaser "First Impressions: Paul Gauguin" (2018) 

Eines der Hauptwerke Gauguins aus der Sammlung der Nationalgalerie ist das Gemälde

- „Tahitianische Fischerinnen“ (1891) 

Wir haben eine ganze Weile gebraucht, um uns einzusehen. Als erstes fiel uns die Malweise auf: Gauguin hat die Leinwand nicht geglättet, sondern nutzt ihre Struktur als durchscheinenden Untergrund (oder hatte er nur nicht genug Farbe?). In's Auge fiel natürlich die sitzende Frau auf der rechten Seite und damit zugleich die Teilung des Bildes in eine eher "passive" und eine größere "aktive" Seite. Doch was passiert auf der linken Seite? Eine halbnackte Frau beugt sich über eine blutrote Fläche über ein schlangenartiges Tier, das wir schließlich als Schildkröte identifizierten. Hinter ihr steht ein ebenso unbekleideter Mann bis zum Bauch in demselben Wasser, das beide in wilden Strömen umfließt, während sich im Hintergrund eine Landschaft öffnet und rechts eine Frau aus dem Bild schreitet. Hat Gauguin hier direkt vor Ort gemalt, wie eine Schildkröte gefangen und getötet wurde? 

Zum Schluss haben wir noch einmal auf eine originale Fotografie zurückgegriffen,

- Arthur Baessler (1857-1907), Tautira, 1896-1898 Fotografie,  

die Frauen vor der Missionsstation von Tautira, einem polynesisches Stranddorf an der Südostküste von Tahiti, zeigt. 

Gauguin hat während seines Aufenthaltes in Tahiti Tagebuch geführt. Darin verwendet er den Ausdruck "noa noa", um den Duft der tahitianischen Frauen zu beschreiben. Als er 1893 nach Paris zurückkehrte, wollte er die neuen tahitianischen Bilder unbedingt ausstellen, wusste aber im Voraus, dass die Pariser Kunstwelt sie möglicherweise als zu fremdartig ablehnen würde. Als Kontext zu einer Ausstellung begann er einen Text mit dem Titel "Noa Noa" zu schreiben, allerdings wurde die Arbeit und  die zugehörige Folge von Holzschnitten - bis auf neun Bilder - nicht rechtzeitig zur Ausstellungseröffnung fertig. Erst 1924 wurde das Manuskript zusammen mit insgesamt 24 Holzschnitten veröffentlicht. Die zusätzlichen Holzschnitte stammen von Gauguins einstigem Künstlerfreund Georges-Daniel de Monfried, der sich von Gauguins WErken inspirieren ließ. 

Mit dieser Holzschnittfolge von Gauguin verglichen wir noch einmal die Originalfotografie

- "Noa Noa", Holzschnitte (1893/94)

und stellten noch einmal fest, wie sehr Gauguin auch in diesen Bildern das ursprüngliche Leben auf der Insel als exotisch und fremd darstellt; ein Leben und eine Kultur, die schon damals zum größten Teil der Vergangenheit angehörte.