Mittwoch, 10. August 2022

"Fiktionen der Emanzipation: Carpeaux neu betrachtet"

Website der Ausstellung im Metropolitan Museum

"Fictions of Emancipation: Carpeaux Recast" heißt eine Ausstellung im Metropolitan Museum in New York, die noch bis zum 5. März 2023 zu sehen ist.

Die Webseite der Ausstellung gibt schon einen ersten Eindruck davon, um was es den Ausstellungsmacherinnen geht: Man sieht den Kopf einer schönen jungen schwarzen Frau aus weißem Marmor gehauen (es gibt diese Büste in verschiedenen Versionen, so z.B. auch in Bronze und Terrakotta, also in dunklerer Farbe). Diese Plastik des französischen Bildhauers

- Jean-Baptiste Carpeaux, "Pourquoi naître esclave?" (Warum als Sklavin geboren!), 

die 1868 modeliert und fünf Jahre später in Stein gehauen wurde, steht im Mittelpunkt und wird mit anderen z.T. auch modernen Werken konfrontiert. Damit werden Fragen aufgeworfen, in denen es um die Versklavung schwarzer Menschen und dem damit einhergehenden, noch immer vorhandenen Rassismus gegenüber Menschen anderer Hautfarbe geht.

Wir haben als erstes die Büste genauer angeschaut, die zum Glück aus vielen verschiedenen Positionen abgebildet ist. Aufgefallen ist uns die Kopfhaltung und der wütende - oder verzweifelte? - Gesichtsausdruck der jungen Frau. Beides wirkte auf uns anklagend und erinnerte zusammen mit der Fesselung der Arme und der freien Brust an die menschenverachtende Zurschaustellung, die wir von Bildern von Sklavenmärkten kennen (die übrigens auch heute noch ganz offenbar gern vermarktet und damit wohl auch gekauft werden!).  

Die Büste wurde 1868 angefertigt und damit drei Jahre nach dem Ende der Sklaverei in den Vereinigten Staaten. In den französischen Atlantikkolonien, in deren "Mutterland" die Büste zu einem weithin reproduzierten Luxusobjekt wurde, war die Sklaverei immerhin schon 20 Jahre vorher mit dem Emanzipationsdekret von 1846 abgeschafft worden. Damit ist dieses Werk, wie es in der Washington Post heißt: "ein Nachspiel zur Sklaverei in Frankreich, eher eine patriotische Gratulationsübung als ein direkter Appell an das Gewissen. Und das macht sie besonders problematisch". Auf der Ausstellungsseite der Met steht dazu die Frage zu lesen: "Wenn wir eine versklavte Frau kaufen, können wir dann etwas anderes tun, als uns an der Ästhetisierung der Sklaverei zu beteiligen?" 

Und was bedeutet das für uns, die wir diese Büste betrachten? Dieser Frage sind wir weiter auf den Grund gegangen und zwar mit den beiden folgenden Werken:

- Josiah Wedgwood, Anti-Sklaverei Medallion, ca. 1787 

Es ist ein relativ kleines Medaillon (6 × 3 cm) aus weißem Steingut. Wir sahen darauf den von der Seite gezeigten, am Boden knienden schwarzen Menschen, dessen Arme mit schweren Ketten an seine Füße gefesselt sind. Er erhebt seinen Kopf und seine Hände, die wie zum Gebet gefaltet sind. Man kann sich selbst als sein stehendes - weißes - Gegenüber imaginieren, dem er die Frage der Umschrift stellt: "Bin ich nicht ein Mensch und ein Bruder?". Die Haltung wurde zuerst als aufrecht charakterisiert, aber je genauer wir hinsahen, desto stärker wurde der Eindruck einer gewissen Unterwürfigkeit, die stark an die Emotion der Betrachtenden appelliert.

Dieses Bild war das Siegel der Londoner Anti-Sklaverei Gesellschaft, einer Abolitionistengruppe, die 1787 gegründet worden war. Abolitionismus bezeichnet eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei, die aus christlichen und aufklärerischen Überzeugungen entstand. Sie begann 1761 in Portugal und ging um die ganze westliche Welt.  Ab 1808 nahm Großbritannien mit dem Slave Trade Act, dem Verbot des Sklavenhandels - man hatte bis dahin besonders in Liverpool außerordentlich gut am Sklavenhandel verdient - eine Vorreiterrolle im Kampf gegen die Sklaverei ein. 

Das Bild wurde in den gedruckten Schriften der Abolitionisten, sowie auf auf einer Vielzahl von Konsumgütern verbreitet:

  - Kölnisch-Wasser-Flasche mit eingeschliffenen Anti-Sklaverei-Bild, ca. 1830 

Unter anderem gibt es die Darstellung einer knienden schwarzen Frau mit dem Satz: "Bin ich nicht eine Frau und eine Schwester".

So sieht man heute diese weit verbreitete Darstellung, die sicher auch zum Erfolge der Anti-Sklaverei-Bewegung führte, mit gemischten Gefühlen an, denn sie zementiert mit dem Motiv der knienden und flehenden Schwarzen die Assoziationen von Schwarzsein mit Sklaverei und Unterwerfung, ganz ähnlich wie die Büste der schönen gefesselten schwarzen Frau von Carpeaux. 

Wir sind zeitlich noch einmal zurück gegangen und haben eine schöne weiße Frau angeschaut:

 - Jean Antoine Houdon, Badende (von einer Brunnengruppe), 1782 

Sie stammt von einem Brunnen im Lustgarten (dem heutigen Parc Monceau) des Duc d'Orleans: Bei ihr stand ursprünglich eine in Blei ausgeführte schwarze Frau, eine Dienerin, die das Wasser durch eine Kanne auf den reinweißen Rücken ihrer Herrin pumpte. Sie verschwand während der Franzöischen Revolution, nur ein Gipsabdruck ihres Kopfes ist erhalten: 

- Büste einer Frau, 1794 oder später, nach einem Model von Jean Antoine Houdon  

auf dem Sockel steht: "RENDUE A LA LIBERTE / ET A L’EGALITE / PAR LA CONVENTION NATIONALE / LE 16 PLUVOISE / 2ME DE LA REPUBLIQUE FRANÇAISE / UNE ET INDIVISIBLE" (“Wiederherstellung von Freiheit und Gleichheit durch den Nationalkonvent 16 Pluviôse, Jahr zwei der Französischen Republik, Eins und unteilbar.”)

Als Frankreich 1794 zum ersten Mal die Abschaffung der Sklaverei beschloss, wandelte Houdon das Abbild seiner Sklavin in Terrakotta um und produzierte es mit der abolitionistischen Beschriftung in größerer Auflage als Erinnerungszeichen. 

Die erste schwarze amerikanische Bildhauerin, Edmonia Lewis, hat im 19. Jahrhundert das Thema der Befreiung der Sklaven aufgegriffen: 

- Edmonia Lewis, Für immer frei, 1867. 

Bei ihrer Skulpturengruppe fiel uns als erstes der stolz aufrecht stehende Mann auf, der seine gebrochene Fessel mit einer siegesgewissen Geste zum Himmel streckt. Während wir ihn wenigstens am Haar als schwarzen Menschen erkannten, ist die Frau, die neben ihm in der typischen Geste, die wir von dem Medallion der Abolitionisten kannten, am Boden kniet und die Hände bittend empor hält, nicht als schwarz gekennzeichnet. Ihre glatten Haare deuten sogar eher auf eine weiße Frau hin, fanden wir, und anscheinend steht sie unter dem Schutz des viel größeren Mannes. Man sieht es kaum, aber an ihrem linken Knöchel, befindet sich ebenfalls eine gebrochene Kette.  Die Inschrift auf dem Sockel der Skulptur zitiert übrigens direkt aus der Emanzipationsproklamation Abraham Lincolns. Und damit wird auch klar, dass Edmonia Lewis, ihr Werk unter dem direkten Einfluss von der Nachricht dieser Proklamation geschaffen hat, die ein erster, entscheidender Schritt zur Abschaffung der Sklaverei in Amerika war. Ansonsten fanden wir die Plastik eher typisch für die Zeit in ihrem glatten, an antiken Schönheitsidealen orientiertem Stil. 

Inzwischen habe ich auf dieser Website eine interessante Antwort auf die Frage gefunden, was das Besondere an dieser Plastik ist: Ein Schwarzer, der aufsteht und seine Freiheit begrüßt, ja sogar feiert. Sofort erinnert man sich, dass das Motiv der flehenden, knienden Schwarzen Jahrzehnte lang immer wieder wiederholt und damit zum Symbolbild der Sklaverei wurde. In dem Blog wird darauf hingewiesen, dass die berühmteste frühe Emanzipations-Skulptur, Thomas Balls Emanzipations-Denkmal von 1876, einen Schwarzen zwar mit zerbrochenen Fesseln zeigt, aber er ist immer noch und jetzt nicht mehr bittend, sondern eben "in Dankbarkeit kniend" unter der ausgestreckten Hand Lincolns dargestellt. Damit wird auch gezeigt, wie sehr der weiße Befreier in seiner zeitgenössischen bürgerlichen Kleidung dem halbnackten Freigelassenen überlegen ist:

- Thomas Ball, Emanzipationsdenkmal, 1876

Wir haben dieses Bild nicht gesehen, sondern sind weitergegangen zur Darstellung der Kontinente, die oft durch eine allegorische Gestalt verbildlicht wurden. 

- Frédéric-Auguste Bartholdi, Allegorie Afrikas, modelliert ca. 1863–64, Frankreich 

Die nach Art römischer Brunnengottheiten mit aufgestützem Arm am Boden liegende Gestalt eines Schwarzen stammt von dem

- Bruat-Brunnen auf dem Marsfeld in Colmar (Das Bild zeigt eine historische Ansicht des Brunnens)

Armand Joseph Bruat war ein französischer Admiral des 19. Jahrhundets, der unter anderem ab 1843 Gouverneur der Marquesas-Inseln war und als Geschäftsträger Frankreichs die Königin Aimata Pomaré IV. von Tahiti mit Druck und Drohungen zur Anerkennung der französischen "Schutzherrschaft" zwang. Er steht hochaufgerichtet auf dem Sockel über den Allegorien der Kontinente.

An der Figur Afrikas - sie wurde in kommerziellen Editionen vermarktet - fiel uns auf, dass der muskulöse nackte Mann mit Bastrock auf einem Löwenfell ruhend dargestellt ist. Auf der Seite des Museums wird dazu noch ausgeführt, dass Bartholdis Betonung des muskulösen Körpers, der Gesichtszüge und der Haarbeschaffenheit die zunehmende Verbreitung pseudowissenschaftlicher Theorien widerspiegele, die das physische Erscheinungsbild als Beweis für rassische Unterschiede ansahen.

Das letzte Werk, das wir in diesem Zusammenhang betrachtet haben, war von der afrikanisch-amerikanischen Künstlerin Kara Walker, die für ihre Erforschung von Rasse, Stereotypen, Geschlecht und Identität in der amerikanischen Geschichte bekannt geworden ist. Von ihr ist ein kleineres Werk, das sich direkt auf die Ausstellung bezieht, in New York ausgestellt. Wir aber haben uns den - inzwischen zerstörten - riesigen Brunnen angesehen, der Ende 2019-Anfang 2020 in der Turbinenhalle der Tate Modern ausgestellt war.

- Kara Walker, Fons Amerikanus, 2019-20 (verschiedene Ansichten des Brunnens)

Die Künstlerin wurde zu ihrem Werk von dem Londoner Victoria Memorial inspiriert. Beim Betrachten war es nicht einfach sich nur über die Bilder einen Eindruck von dem 13 Meter hohen, voll funktionsfähigen Brunnen zu verschaffen. Eine ausführliche englische Beschreibung dazu ist auf der Seite der Tate Modern veröffentlicht. Wir haben uns gefragt, was die Muschel am Eingang bedeutet. Sie hat die Form der Muschel, die man von dem Gemälde "Geburt der Venus" von Sandro Botticelli kennt. Wie die Künstlerin überhaupt gern auf Motive aus der Kunstgeschichte zurückgreift. Kommt man näher, sieht man, dass in der Muschel der Kopf eines schwarze Jungen aus dem Wasser ragt, aus dessen Augen Wasser rinnt. In der Beschreibung heißt es, dass diese Muschelgrotte mit den Ruinen einer kolonialen Handelsfestung in Sierra Leone verbunden ist, wo europäische Sklavenhändler und afrikanische Kaufleute Männer, Frauen und Kinder als Sklaven gefangen nahmen und verkauften. Schon hier taucht die Frage auf, wie man mit Denkmälern in öffentlichen Raum, die zu Reichtum gekommene Sklavenhändler feiern, umgehen soll.

Der Brunnen dahinter stellt eine Metapher des "Black Atlantic" dar. Mit diesem Begriff soll anerkannt werden, wie das Erbe des transatlantischen Sklavenhandels die Entwicklung der schwarzen Identität und Kultur in Amerika und Europa geprägt hat. In dem Wasser schwimmen Haie und zwischen ihnen ist uns ein Boot aufgefallen, das am Untergehen ist. In ihm sitzt ein Schwarzer zwischen Tauen und es ist mit K. West beschriftet. Hat es etwas mit dem Ort Key West zu tun?

Am Sockel in der Mitte des Wassers befinden sich stereotype Gestalten: Wir erkannten an der Frontseite eine Figur mit Dreispitz. Sie stellt "The captain" dar und ist als Symbolfigur jener schwarzen Persönlichkeiten gedacht, die sich gegen die europäischen Kolonialmächte aufgelehnt und die Freiheit erkämpft haben. Rechts daneben erkannten wir das schon bekannte Motiv des bittenden schwarzen Sklaven. Darauf folgt Queen Victoria, die mit ihrer Hand einen am Boden hockenden Menschen niederzudrücken scheint. Die nächste Seite zeigt einen Baum, an dessen Ast eine Schlinge hängt, die sofort die Erinnerung an die schrecklichen Lynchmorde in Amerika während des 20. Jahrhunderts weckt.

Die Figur an der Spitze des Brunnens ist als Venus gedacht. Dazu wird auf der Seite der Tate Modern auf einen Kupferstich hingewiesen. "The Voyage of the Sable Venus from Angola to the West Indies" des britischen Künstlers und Buchillustrators Thomas Stothard (1755-1834) zeigt die Venus als afrikanische Frau, die auf einer geöffneten Halbschale steht, umgeben von weißen Putten. Begleitet wird sie von Triton, dem griechischen Meeresgott, der triumphierend die britische Flagge trägt. Das Bild wurde als Propagandamittel zur Förderung des transatlantischen Sklavenhandels eingesetzt. In Walkers Brunnen steht die Venus nun majestätisch an der Spitze des Brunnens und spritzt Wasser aus. 

Diese Ausstellung in New York hat uns auf jeden Fall gezeigt, wie stark unser Bild von schwarzen Menschen von Stereotypen geprägt ist. Außerdem haben wir eine ganze Weile über die Sklaverei gesprochen, die ja auch heute immer noch nicht wirklich abgeschafft ist, aber auch über den latenten Rassismus, den man als weißer Mensch automatisch mit seiner Erziehung und Bildung aufsaugt, ohne dass man viel darüber nachdenkt.

Übrigens ist der 19. Juni, der Juneteenth, das älteste US-amerikanische Fest zum Gedenken an das Ende der Sklaverei. Es erinnert an den Tag im Jahr 1865, als Unionssoldaten in Galveston, Texas, eintrafen und die Einwohner darüber informierten, dass der Bürgerkrieg vorbei und die Sklaverei abgeschafft war. Afroamerikaner und andere feiern den Jahrestag seit langem mit Partys, Picknicks und Zusammenkünften von Familie und Freunden. Im vergangenen Jahr unterzeichnete Präsident Joe Biden ein Gesetz, mit dem er ein staatlicher Feiertag in Amerika wurde.