Im Kerker der Phantasie" (vom 24.05.2019 bis 10.11.2019) in der Sammlung Scharf-Gerstenberg auf der Berliner Museums-Insel dreht sich um die berühmte Folge von Radierungen von Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) mit dem italienischen Namen "Carceri d’invenzione", der durchaus doppeldeutig ist, weil er sowohl die Kerker meinen kann, in denen die Phantasie oder die Erfindung eingeschlossen ist, wie diejenigen, welche in der Phantasie ausgeformt (und zu Papier gebracht) werden.
Wir haben uns als erstes mit dem Künstler selbst bekannt gemacht und dazu sein nebenstehendes Porträt angesehen, das in der Ausgabe seiner Werke von 1835 abgedruckt ist:
- Porträt von Giovanni Battista Piranesi, 1779
Natürlich fällt das Porträt in dem runden Rahmen zuerst in's Auge. Aber was sagt das ganze Bild noch aus? Wir lesen den Namen und die Bezeichnung "Venetu Architectus", also venetianischer Architekt, sowie dass er 1778 im Alter von 58 Jahren gestorben ist. Die Architekturbruchstücke - ein Kapitell mit einer Rüstung, ein Steinbrocken mit Grundrissen - deuten auf seinen Beruf hin und zugleich darauf, dass er der erste war, der die archäologischen Überreste in Rom mit geradezu wissenschaftlicher Akribie gezeichnet und im Druck veröffentlicht hat. So gab er 1745 eine Folge kleinerer Stadtansichten von Rom heraus ("Varie Vedute di Roma Antica e Moderna"), auf die 1748-1774 die "Vedute di Roma" folgten, von denen wir die Vedute des
- Trevi-Brunnens
angesehen haben - und ja, das ist der, in dem Anita Ekberg in dem Film das "Das süße Leben" (La dolce vita 1960) gebadet hat!
Piranesis berühmteste Folge aber sind die 14 bzw. 16 Radierungen der "Carceri". Wer sie alle in ihren beiden etwas unterschiedlichen Fassungen sehen will, kann das auf der englischen Wikipedia-Seite für den Künstler, wenn er oder sie ein wenig herunter-scrollt. Dort sind die Einzelbilder der beiden Serien nebeneinander gestellt, denn die Serie erschien 1750 zuerst nur mit 14 Blättern und kam 1761 um zwei Blätter erweitert und deutlich dunkler und kontrastreicher noch einmal heraus. Es gibt dazu auch ein eindrucksvolles Video (12 Minuten), in dem die Bilder dreidimensional und damit sozusagen betretbar werden.
Wir haben uns als erstes die
- Titelseite der 2. Serie angeschaut,
wobei uns sofort das mit Spitzen bewehrte Rad am Boden auffiel und sein Gegenpart, der Mann in Ketten über der Inschrift. Natürlich haben wir auch gesucht, wo die Treppen und Balustraden eigentlich hinführen. Dabei kann man den Text der Staatlichen Museen nachvollziehen, in dem es heißt, dass die Darstellungen zu Spekulationen verleiten, weil sich in ihnen kein einziger abgeschlossener Raum findet. Eigentlich also kein Gefängnis dargestellt wird, sondern eine "Welt der Zwischenräume", also Tore und Bögen, Treppen und Leitern, die teilweise in die Irre führen oder gegen eine Wand laufen. Das gilt auch für das
- erste Blatt: Mann auf der Folterbank,
das Piranesi 1761 eingefügt hat. Die Gesichter in der Mitte fielen als erstes auf, die aussehen wie ein übergroßes antikes Relief und im Gegensatz zu den kleinen Menschen stehen, die darüber anscheinend miteinander kämpfen. Dann erst ging der Blick nach unten und dort nicht nur zu dem martialischen Folterer an dem großen Drehgestell und zur Streckbank mit dem Gefesselten. Sondern auch zu den kleinen Gestalten, die unter dem Bogen rechts und aus dem Fenster links aus der Tiefe hervorsteigen. Dann steht noch ein großer Mann rechts neben dem Gefolterten und hält eine Art Dorn direkt über seinem Kopf. Will er ihn fallen lassen oder will er ihn als Nagel in die Wand dahinter einschlagen? Es ist wirklich leicht sich mit seiner Phantasie in diesen Bildern zu verfangen... Aber den Kunstsurfer*innen hat dieser Eindruck gereicht.
In der Literatur heißt es, dass Piranesis Architekturphantasien, die übrigens auch von Bühnenbildern beeinflusst sein sollen, selbst andere Architekten wieder beeinflusst haben und als Beispiel wird
- Gefängnisneubau in Newgate, 1770
von dem Architekten George Dance dem Jüngeren genannt. So richtig viel Ähnlichkeit konnten wir nicht feststellen, aber immerhin doch das Schroffe dieser Architektur herausarbeiten. Nur zur Information, es heißt auch dass die Bilder zur Darstellung der Schrecken der Bastille verwendet wurden und noch in der Filmarchitektur des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen haben. Das könnte man auch mal untersuchen...
Wir haben uns noch ein wenig dem Thema des Kerkers zugewandt, das in der Berliner Ausstellung um das Werk von Piranesi herumgruppiert wird. Er kann z.B. als Ort der Einsamkeit erscheinen, der durch die Phantasie bevölkert wird, wie bei Honoré Daumier (1808–1879), der eine Zeit in einer Heilanstalt verbringen musste. In seiner vierteiligen Serie "L'imagination" gibt es das Bild
- Honoré Daumier, L'hôtel des haricots (Bohnenhotel),
in dem ein in einer Zelle Gefangener auf einer Pritsche sitzt und von einer Menge kleiner Gestalten umgeben ist. Er sieht sich selbst in Kleinformat beim Essen am Tisch und beim Billardspielen zu, lässt aber auch seine Bewacher vor sich entlang spazieren.
Bei Odilon Redon (1840–1960) dagegen wird die Abkapselung von der äußeren Welt zu einem Schutzraum um den Kopf der Dargestellten und im Text der Berliner Museen heißt es, dass damit "das freie und traumhafte Imaginieren" überhaupt erst ermöglicht wird
- Odilon Redon. Zellengesicht (1890-95)
Daneben gibt es in Piranesis Werk aber auch eine unklare Verschränkung von Innen- und Außenräumen, dem in der Ausstellung das Werk von Giorgio de Chirico (1888–1978) gegenübergestellt wird, der durch die "Idee des paradoxalen Ineinandergreifens von Innen- und Außenraum" in seinen Bildern einen übergeordneten, „metaphysischen“ Ort etablieren will, "der für die Malerei des Surrealismus eine bedeutende Rolle spielte". Dazu haben wir
- Giorgio de Chirico, Apparizione della ciminiera, 1917
angesehen und dann auch mit Piranesi verglichen. Die Leere und Glätte der Architekturformen fiel sofort ins Auge und auch die kleine Dampflok im Hintergrund, das einzig "lebendige" Detail des Bildes. Dazu kam schnell die Assoziation zu
- Paul Klee, Revolution des Viaductes, 1937
auf und beim Betrachten wurde zugleich klar, wie unterschiedlich beide Künstler mit den Architekturformen spielen, die bei Klee schon wieder lebendig werden und sozusagen "los-spazieren". Die Verbindung von de Chirico zu Piranesi fanden wir in den unterschiedlichen Perspektiven, die auch bei de Chirico zu finden sind, und natürlich in der Überbetonung des Architektonischen, die viele Bilder von de Chirico auszeichnet. (Und für alle, die sich nicht erinnern konnten: Diese Ausstellung des Künstlers habe wir schon mal angesehen!)
Um Imagination/Phantasie und Haft geht es in anderer Weise auch in den beiden Werken WOLS und Hans Bellmer, aus der Zeit seines Lagerlebens in einer großen Ziegelei im französischen Camp des Milles.
- WOLS (1913–1951), Camp des Milles, 1940
fand nicht viel Zustimmung, vielleicht gerade deshalb, weil dieses Bild so chaotisch wirkt und nur die beiden geisterhaften Köpfe eine wiedererkennbare Form bilden. Aber könnte das nicht gerade aussagekräftig für den Zustand der Internierung sein, der dem Bild seinen Titel gibt?
Bei
- Hans Bellmer, Les Milles en feu, 1941 (Achtung man muss zu dem zweiten Bild von oben herunter scrollen!)
heißt es im französischen Text darunter, dass es sich um eine Lithographie handelt, in deren Vordergrund das Gesicht einer jungen Frau erscheint, deren Haar in Rauch übergeht, der sich am Himmel ausbreitet. Rechts davon ist das Gesicht einer zweiten Frau. Es ist noch stärker als das im Vordergrund mit einer "Ziegelhaut" überzogen. Links erscheint die Ziegelei (also das Internierungslager) und in der Mitte ein gemauerter Turm, der - wenn man genau hinschaut - zu einem Totenschädel mutiert. Dazu gibt es die Information, dass in der ersten Periode des Lagers dort nur die Männer eingesperrt waren, was die vielen Gesichter der Frauen erkläre könnte.
Als letztes Bild der Ausstellung haben wir dann die kleine Gouache von
- Georges Hugnet (1906 - 1974), Le mystère est exempt de pudeur, (Das Geheimnis ist frei von Schamgefühl) 1935
aufgerufen, dessen weibliche Darstellung die Assoziation einer Walküre - allerdings im Film der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts - hervorrief und zugleich sofort als Domina identifiziert wurde. Die Gefängniswärterin mit Peitsche im Meer, dahinter ein Gefängnistor, das ein Mann schließt und an dem eine Frau hängt, die schon fast ganz zum Gerippe geworden ist? Dieser surrealistischen Darstellung konnten wir nur schwer folgen und ließen es einfach dabei bewenden...