Die Ausstellung „Future Bodies from a Recent Past – Skulptur, Technologie, Körper seit den 1950er-Jahren“ im Museum Brandhorst in München läuft noch bis zum 15. Januar 2023. Den Titel kann man mit "Zukünftige Körper aus der jüngsten Vergangenheit" übersetzen (klingt lange nicht so großartig wie auf Englisch oder?) übersetzen. Die Macherinnen schreiben dazu, dass sich diese Ausstellung im Spannungsfeld technologischer Entwicklungen verortet und danach fragt, wie diese uns und unseren Alltag geprägt haben, welche Hoffnungen und Bedenken damit in ihrer jeweiligen Gegenwart verbunden waren, und ob sie sie sich erfüllt haben. Als "Ausblicke in die Zukunft aus der nahen Vergangenheit" soll die Ausstellung einen Streifzug durch gesellschaftliche Schlüsselereignisse, technologische Erfindungen und sich verändernde Körpervorstellungen der vergangenen Jahrzehnte bieten. Dazu gibt es auch einen Zeitstrahl, den man findet, wenn man auf derselben Seite herunterscrollt.
Wir haben uns diese Zusammenstellung als erstes angesehen und dabei viel über die Geschichte der technologischen Entwicklung gelernt, von der man ja denkt, dass sie erst in diesem Jahrtausend entstanden sein kann. Dem ist nicht so: So hat z.B. Konrad Zuse 1941einen vollprogrammierbaren digitalen Computer entwickelt, ein Jahr später entwirft die Schauspielerin Hedy Lamarr eine Funksteuerung für Torpedos auf Basis eines automatischen Frequenzenwechsels - und damit eine Vorläuferin des WLAN. Im darauf folgenden Jahr begründet Norbert Wiener in den USA die Kybernetik, eine Wissenschaft der Steuerung und Kontrolle von Maschinen analog zum menschlichen Gehirn und zu sozialen Organisationen. 1945 wird der erste Universalrechner zur Berechnung ballistischer Tabellen verwendet und hauptsächlich von Frauen programmiert.1954 entsteht die Industrierobotik mit "Unimate", dem ersten programmierbaren Roboter, der einen Arm und Greifer besitzt und in der Autoindustrie zum Einsatz kommt. Schon 1963 wird dann die Digitalkamera erfunden und 1968 ermöglicht das militärische Computernetzwerk ARPANET der US Air Force erstmals eine Kommunikation zwischen Rechnern, womit ein Vorläufer des Internets entsteht. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Zeitstrahl!
Doch eigentlich wollten wir ja die Objekte und Skulpturen ansehen, deshalb sind wir bald zu einer der "ältesten" Skulpturen der Ausstellung weitergegangen:
- Nicola L., Little TV Woman: "I Am the Last Woman Object" (Kleine Fernseherfrau: "Ich bin das letzte Frau-Objekt") , 1969
Im Text dazu heißt es auf der Ausstellungswebsite, dass es sich um eine auf dem Boden sitzende Figur, ausgestattet mit Schubladen anstelle von Brüsten und einem Fernseher anstelle eines Bauches handelt, die 1969 erstmals im Schaufenster einer Pariser Schmuckboutique gezeigt wurde. Sie soll von der Künstlerin als "skulpturales Möbelstück" für den alltäglichen Gebrauch bestimmt worden sein. Uns ist besonders aufgefallen, dass die Künstlerin dieser TV-Frau kein Gesicht sondern nur eine Art offen stehenden Mund gegeben und ihr anstelle von Haaren ein Fell über den Kopf gestülpt hat. Auch die Widersprüchlichkeit des Textes auf dem Fernseher hat uns beschäftigt: „Ich bin das letzte weibliche Objekt. Du kannst meine Lippen nehmen, meine Brüste berühren, meinen Bauch liebkosen, mein Geschlecht. Aber, ich wiederhole, es ist das letzte Mal“. Trotz des Hinweises auf "das letzte Mal", fordert das Fernsehbild ja ständig dazu auf, dieses "letzte weibliche Objekt" zu berühren! Das gab Anlass über die Entwicklung des Feminismus in den 1960er und 1970er Jahren zu reden, die wir selbst ja mehr oder weniger hautnah miterlebt haben.
Als nächstes betrachteten wir von
- Paweł Althamer, Bródno People, 2010
Diese lebensgroße Figurengruppe ist von
- Auguste Rodin, Die Bürger von Calais, 1889
inspiriert. Rodin hat darin den gemeinsamen Opfergang von sechs Bürgern der Stadt Calais dargestellt, die sich im Mittelalter freiwillig als Geiseln für ihre Stadt zur Verfügung stellten.
Der polnische Künstler lässt für sein Werk Menschen aus der Plattenbausiedlung in dem Warschauer Stadtteil Bródno auftreten, wo er selbst aufgewachsen ist, wie es in dem Begleittext heißt. Jede Figur soll einen oder eine Nachbarin, sowie den Künstler selbst darstellen. Wir erkannten zwar eine gewisse Individualität der Figuren, doch gleichzeitig hat nur die mit Binden umwickelte ein menschliches Gesicht, alle anderen sind "gesichtslos". Verglichen mit der Ausdrucksstärke in Mimik, Haltung und Gesten bei den "Bürger von Calais", sind die "Leute von Brodno" zwar in Bewegung und dazu noch auf einem fahrbaren Untersatz montiert, doch scheinen sie auf dem Weg zur Arbeit zu sein - dem heutigen "Opfergang", in dem die Menschen ihr Leben für Lebensmittel und Waren eintauschen? Passt dazu das roboterartige Aussehen mancher der Gestalten und speziell die "Maschinenwelt", aus der ihr durchsichtiger Anführer zusammengebaut ist?
Die Verbindung von Technik und Mensch nimmt auch die Skulpturengruppe von
- Aleksandra Domanović, The future was at her fingertips, 2013 / 2022
auf. Die ganze und größere Installation kann man in dem obigen Link sehen. Im Museum Brandhorst sind offenbar nur die drei künstlichen Hände ausgestellt, die in unterschiedlichen Haltungen auf durchsichtigen Plastiksockeln befestigt sind. Sie heißen
- "Little sister"
- "Fatima" und
- "Mayura mudra"
und zeigen Gesten aus verschiedenen kulturellen Traditionen. "Fatima" verweist auf die Hand der Fatima, ein Symbol - oft in Form eines Amuletts, das im Islam als Schutz gegen den "Bösen Blick" gilt, aber auch als Segenshand gedeutet werden kann. Bei der Geste des Mayura mudra stellen die Finger den Schnabel eines Pfaus nach. Dieser gilt in Indien als Symbol der Unsterblichkeit und Liebe, während die "Kleine Schwester" wohl den Vogel meint, der von den Fingerspitzen in die Welt fliegen kann. Den Hintergrund für die Darstellung dieser Hände bildet die die "Belgrade Hand", die weltweit erste, mit fünf Fingern und Tastsinn ausgestattete bionische Handprothese, die der jugoslawische Ingenieur Rajko Tomović 1963 erfand. Zu den Skulpturen gehört eine eigene Timeline, in der die Geschichte der Technologie und auch die Rolle, die Frauen dabei gespielt haben, aufgeführt wird. Dazu gehören auch folgende Daten:
- 1843 Ada Lovelace schreibt das erste Computerprogramm, das als solches gilt
- 1867 Die Schreibmaschine wird eingeführt
- 1950 Eine kybernetische Schildkröte wird von William Grey Walter entworfen
- 1963 Rajko Tomović entwickelt eine der ersten künstlichen Gliedmaßen mit Tastsinn, die so genannte "Belgrader Hand"
- 1968 Marvin Minsky entwickelt den Tentakelarm
- 1973 Das Internet besteht aus 25 Computern
- 1984 Hewlett Packard stellt den ersten Tintenstrahldrucker für Verbraucher vor
- 2000 Der Heilige Isidor von Sevilla wird vom Vatikan zum Schutzpatron des Internets erklärt; er ist auch der Schutzpatron der Computer, Computerbenutzer und Computertechniker
- 2006 Spam nimmt zu und macht 96 % aller E-Mails aus
- 2008 Bhutan erkennt das volle Wahlrecht für Frauen an
- 2012 Bayer Material Science LLC aktualisiert seine Soft-Touch-Beschichtungstechnologie
- 2025 Neuseeland ist komplett rauchfrei
-2099 Die meisten bewussten Wesen haben keine dauerhafte physische Form
Das letzte Werk, für das dann noch Zeit war, war
- Judith Hopf, Phone User 4 (Outdoor) - Handybenutzer:in 4 (draußen), 2021
Es ist Teil der Werkgruppe „rest“, wobei der Titel auch als Wortspiel gesehen werden kann, denn es gibt auf dem Boden sozusagen Reste - sie sehen aus wie überdimensionierte Apfelschalen - und man kann auch das englische Verb "to rest" also ausruhen zugrunde legen. Die Werkgruppe besteht aus zwei menschengroßen Gestalten, die Mobiltelefone vor das Gesicht halten, drei roten Schlingenskulpturen und einer Reihe von Objekten, die aus den Materialresten dieser Skulpturen hergestellt sind. Weist die Künstlerin damit auf den Gegensatz Natur / Kultur hin? Auf jeden Fall hat sie die Haltung und das "Verwachsensein" der Menschen mit ihren mobilen Geräten sehr genau im Blick, fanden wir.