Sonntag, 10. Mai 2020

Kunst oder Kitsch? - Grabmalkunst um 1900

Engel der Trauer, Protestantischer Friedhof, Rom (Foto Leisner)
Schon seit Jahrzehnten beschäftige ich mich mit Grabmalkunst. Als jetzt alle Museen geschlossen waren und auch keine Führungen auf Friedhöfen stattfinden durften, habe ich aus einem schon vor längerer Zeit erschienenen Text aus meinem gedruckten Führer über den Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg ein dreiteiliges Video mit Bildern gemacht und in meinem Blog Friedhofsfreunde veröffentlicht (inzwischen ist es auch auf der Website des Förderkreises Ohlsdorfer Friedhof e.V. zu finden). Von Marlit kam der Vorschlag, dieses Thema auch beim Kunstsurfen aufzugreifen und so geht es hier einmal um jene Kunstwerke - oder ist es vielleicht doch Kitsch? -, die im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts in großer Zahl auf Friedhöfen aufgestellt worden sind und die man kostenlos und unter freiem Himmel besichtigen kann...

Als Einstieg habe ich das Grabmal von

Lorenzo Orengo (1838 -1909) für Caterina Campodonico (1881) auf dem Monumentalfriedhof Staglieno in Genua

ausgewählt. Es ist einerseits typisch für die italienische Grabmalkunst des 19. Jahrhunderts, die weltweit einzigartig ist, und andererseits ein völlig untypisches Grabmal. Warum ich Letzteres behaupte? Grabmale wurden zwar auch für Frauen, aber überwiegend für Männer, also für das jeweilige patriarchale Familienoberhaupt, errichtet. Besonders Porträts, seien es vollplastische Gestalten wie die der Caterina Campodonico, seien es Porträtköpfe oder Medaillons, wurden hauptsächlich für Männer ausgeführt, während Frauen oft als schöne und meist junge Trauernde oder Engel auf den Friedhöfen zu finden sind. Und natürlich konnten es sich nur wohlhabende Familien leisten einen Bildhauer mit der Ausführung einer lebensgroßen Plastik zu beauftragen. Dieses Grabmal aber hat sich eine einfache Frau, eine Nussverkäuferin, ihr Leben lang zusammengespart und sich damit ihren größten Wunsch - nämlich auch posthum in Ausübung ihres bescheidenen Berufes gewürdigt zu werden - selbst erfüllt. Tatsächlich haben wir die Kette mit den Nüssen und den Kringel erkannt, die sie in den Händen hält. Wir haben aber auch über die feine Bearbeitung des weißen Marmors gestaunt, in dem der Stoff der Kleidung, die Quasten des Tuches und die Spitzen um die Taille im Detail wiedergegeben sind. 

Ein weiteres berühmtes Grabmal, von dem es zahlreiche Kopien gibt - sie werden inzwischen sogar von chinesischen Steinbrüchen nach Europa verkauft - ist der

Engel der Trauer (1894) (Bild siehe oben!)

den der Bildhauer und Dichter William Wetmore Story als Grabmal für sich und seine Frau Emelyn für den Protestantischen Friedhof in Rom geschaffen hat. Dieser weibliche Engel mit riesigen Flügeln ist ebenfalls aus weißem Marmor. In ihrer über den Grabstein in tiefem Schmerz zusammengesunkenen Haltung ist diese Figur eine Stellvertreterin nicht nur der Trauer der nahen Angehörigen, sondern über die Zeiten hinweg auch für die Gefühle aller anderen Besucher.

Ganz anders wirkt der Engel auf dem Grabmal der

- Familie Wichmann (1907) auf dem Ohlsdorfer Friedhof

Grabmal Wichman auf dem Ohlsdorfer Friedhof (Foto Marianne DidierBildunterschrift hinzufügen

mit seinem hockenden, männlichen Engel, der in flachem Relief gearbeitet ist und mit seinen großen Flüglen geradezu in die Rückwand eingeklemmt wirkt. Was trägt er auf dem Kopf, wurde gefragt. Es ist eine Flügelhaube, wie man sie von dem Götterboten und Totengeleiter Hermes aus der griechischen Mythologie kennt. Dieser Engel ist also keine Allegorie der Trauer, sondern versinnbildlicht den Tod, wie auch noch weitere Symbole zeigen: Die Mohnkapseln in seiner Hand deuten auf die Verwandtschaft von Schlaf und Tod hin; die Sanduhr zu seinen Füßen auf das Verrinnen der Zeit und um seinen Kopf windet sich eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt und damit auf die Ewigkeit und den ewigen Wandel verweist.

Ein weiterer männlicher Engel steht in Ohlsdorf auf dem Grabmal der

Familie Schutte (1901)  von Fritz Behn

Dieser überlebensgroße schöne und nackte Jüngling, dessen schwere Flügel bis zum Boden reichen, lehnt in Trauer auf einer Stele, auf der die Namen des Kaufmanns Daniel Schutte und seiner Frau Bertha Marianne de Jongh verzeichnet sind. Sie vermachte nach dem Tod ihres Mannes das gemeinsame Vermögen testamentarisch einer Wohnstiftung in Hamburg, die 1892 errichtet wurde. Die Plastik für das Grabmal des edlen Stifterpaares wurde knapp zehn Jahre später aufgestellt. Er hielt sich mit der Gestalt des trauernden geflügelten Engels an Vorbilder aus der Zeit des Klassizismus, als die bis dahin übliche barocke Darstellung des Todes als Skelett mit Sense von einer neuen sanfteren Idee abgelöst wurde: Gotthold Ephraim Lessing hatte 1769 in seiner Schrift


"Wie die Alten den Tod gebildet" (Achtung um zum Titelkupfer zu kommen, muss man bis Seite 9 herunterscrollen!)

die These aufgestellt, dass Tod und Schlaf (Thanatos und Hypnos) in der antiken Kunst als Zwillingsbrüder dargestellt worden seien, wobei der Tod als Genius mit gesenkter Fackel personifiziert werde. Inspiriert von Winkelmanns These von der "edlen Einfalt und stillen Größe" der antiken Kunst glaubte auch Lessing, dass die alten Griechen das Hässliche vermieden und deshalb kein Bild von Moder und Verwesung, sondern die Gestalt des "ewigen Schlafes" für den Tod gewählt hätten. Auf dem Titelkupfer dieser Abhandlung ist ein antikes Relief dargestellt, das Lessing für seine Interpretation herangezogen hat.Wir haben erst mal gerätselt, auf was sich der geflügelte Jüngling über dem liegenden Mann stützt (Auslösung: die umgedrehte Fackel!)

Winkelmanns These wirkte sich auf die Grabmalkunst ihrer Zeit aus. Eines der frühesten – wenn nicht das erste – Grabmal mit der Darstellung des Todes in dieser abgemilderten Form ist

- Thanatos, Gipsabguss des seitlichen Reliefs am Grabmal für den Grafen von der Mark,

- Johann Gottfried Schadow, Monument für Grafen von der Mark, 1788

Wir sind dann noch ein wenig stehen geblieben bei diesem eigentlich dreiteiligen Grabmal. In dem Bogen über dem Sarkophag sieht man nämlich

- drei Frauenfiguren

und da kam natürlich die Frage auf, was die dort machen. Dass die junge Frau links einen Spinnrocken in der Hand hat, lässt sich leicht erkennen. Die mittlere, eine Greisin, scheint einen unsichtbaren Faden in der Hand zu halten, während die Frau in mittlerem Lebensalter rechts in einem Buch liest. Es sind also einerseits drei Lebensalter dargestellt, andererseits aber handelt es sich um die drei Parzen, die Schicksalsgöttinnen der antiken Mythologie.

Der verstorbene Knabe, der wie schlafend auf dem Sarkophag darunter liegt, ist schon mit den Utensilien des Kampfes - Schwert und Helm - dargestellt, während auf der Vorderwand des Sarkophages in flachem Relief eine Szene erscheint, in der er - widerstrebend - von einem geflügelten männlichen Tod zu einem Höhleneingang gezogen wird, während das Kind nach rechts zu der sitzenden Gestalt einer Siegesgötting strebt, hinter der eine Rüstung aufgestellt ist. Seitlich sind dann die oben genannten Reliefs von Thanatos und Hypnos angebracht.

Auf diese Bildtradition hat also auch der Bildhauer Fritz Behn zurückgegriffen. Wobei seinem geflügelten Jüngling die Fackel fehlt, so dass man ihn sowohl als Hypnos (Schlaf) wie als Thantos (Tod) deuten kann.

Ein anderes, ebenfalls antikes Vorbild, kann man auf dem Grabmal von

- Johannes Schilling, für das Ehepaar Lippert, um 1900

finden. Die junge Frau ist lange vor ihrem Mann gestorben und das Grabmal wurde nach ihrem Tod aufgestellt. Schaut man sich aber das herausgehobene Mittelfeld an, so hat man den Eindruck, dass der Mann hier Abschied nimmt und gehen wird, denn er ist als Pilger mit einem Stab dargstellt. Beide tragen antike Gewänder, sind aber mit zeitgenössischer Haar- und Barttracht porträtiert. Damit erinnert ihre Darstellung an antike Grabmäler, auf denen mit ihren oft stillen Abschiedszenen, wie man sie z.B. in der Glyptothek in München in dem

- Grabrelief des Artemon, um 350 v. Chr.

finden kann. Dagegen sind die gebogenen Seitenwände des Grabmal Lippert ganz mit Reliefs ausgefüllt, die Szenen aus dem Leben der früh verstorbenen Ehefrau zeigen. Von links nach rechts sehen wir sie an einer Rose in einem afrikanischen Garten riechen, ihr Tagebuch aus dem Matabeleland schreiben, im Kreis ihrer jungen Verwandten und vor dem von dem Ehepaar gestifteten Waisenhaus mit einem Baby im Leiterwagen. Das erinnert fast an die mittelalterlichen Heiligenlegenden, die in ähnlichen Szenenfolgen erzählt worden sind. Wer mehr über die Bedeutung der Familie Lippert für die Hansestadt Hamburg wissen will, sei hier noch auf das Buch "Diamanten, Dynamit und Diplomatie" hingewiesen.

Ganz zum Schluss haben wir noch das Jugendstilgrabmal von

- Ernst Barlach für die Familie Moeller-Jarke, 1900

angeschaut, das eine Lauschende vor einer Türwand zeigt, auf der ein Putto mit Geige himmlische Klänge ertönen lässt.

Komischerweise haben wir aber die Eingangsfrage dieser Stunde, ob es sich nämlich um Kunstwerke oder um Kitsch bei den besprochenen Grabmalen handelt, gar nicht diskutiert. Deshalb gebe ich die Frage einfach an die Leser*Innen dieses Posts weiter. Was denken Sie?