Donnerstag, 20. Juni 2024

100 Jahre Surrealismus

Cover der 1. Nummer der Zeitschrift Surréalisme1924
In diesem und im kommenden Jahr wird der Surrealismus mit der Ausstellung “Imagine! 100 Years of International Surrealism” gefeiert. Sie wandert durch mehrere europäische Museen wandert und wird zum Schluss in Amerika gezeigt (zur Zeit bis zum 21. Juli in den Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique; 4. September 2024 bis 13. Januar 2025 im Centre Pompidou, Musée national d’Art Moderne, Paris; 12. Juni bis 12. Oktober 2025 in der Hamburger Kunsthalle; 4. Februar bis 11. Mai 2025 in der Fundación Mapfré Madrid und schließlich Herbst 2025 bis Frühling 2026 im Philadelphia Museum of Art). 

Parallel lief bis zum 16. Juni eine weitere Surrealisten-Ausstellung im Bozar in Brüssel unter dem Titel "Histoire de ne pas rire. Surrealism in Belgium" (Geschichte des Nicht-Lachens. Surrealismus in Belgien). 

Anlass für die intensive Beschäftigung mit dieser Bewegung ist das Jahr 1924, in dem André Breton das "Manifeste du Surréalisme" (Manifest des Surrealismus) veröffentlichte. Darin definierte er den Surrealismus als einen „reinen psychischen Automatismus“ und erklärte das Wort damit, dass er an die Auflösung der nur scheinbar gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit glaube, die zu einer Art absoluter Realität, der Surrealität führe.

Da ich vorhabe die Ausstellung "Imagine!" in Hamburg zu besuchen, wird sie erst im nächsten Jahr eines unserer Themen beim Kunstsurfen sein. Doch habe ich mich anlässlich der beiden Ausstellungen in Brüssel einmal wieder mit dem Surrealismus beschäftigt und bin dabei auf die "Exposition Internationale du Surréalisme" von 1938 gestoßen, um die es im Folgenden geht. Mit ihr gestalteten die Künstler erstmals eine eigenständige Präsentation für ihre Werke, durch die die Ausstellung als Ganzes zu einer surrealistischen Produktion wurde. Es gab drei Abteilungen: den "Vorhof", die "Plus belles rues de Paris" (Die schönsten Straßen von Paris) und den zentralen Ausstellungsraum. Zur Eröffnung fand nach einer Idee von Salvador Dalí eine "Performance" statt: Die französische Schauspielerin Hélène Vanel sprang aus Kissen auf dem Boden - mit Ketten um ihren nackten Körper, plantschte einer Teichinstallation in der Mitte des Hauptraumes. Kurze Zeit erschien sie später in einem zerrissenen Nachtgewand, "und gab eine nur zu realistische Vorstellung eines hysterischen Anfalls" (zitiert nach dem Wikipediaartikel).

Zuerst aber haben wir ein kleines Experiment mit der Idee der Vermischung von Traum und Wirklichkeit gemacht, indem wir kurz einmal das "Automatische Schreiben" ausprobiert haben. Dabei lässt man seine Gedanken einfach fließen und schreibt in freier Assoziation auf, was einem gerade einfällt. Die Surrealisten haben diese schriftstellerische Form als neue Poesie und experimentelle Literatur angesehen. Wir haben unsere Assoziationen zu den vier von mir vorgegebenen Worten "Taxi", "Hai", "Regen" und "Abendkleid" fließen lassen und kamen zu ganz unterschiedlichen Wortfolgen. Das kann jeder für sich einmal ausprobieren...

Die Auflösung der vorgegebenen Worte folgte dann mit der Installation von 

- Salvador Dali,  Rainy Taxi oder Mannequin Rotting in a Taxi-Cab, 1938.

Wenn man unten auf die kleinen Bilder klickt, wird ein wenig klarer, was mit dem Mannequin, das in einem Taxi verrottet, gemeint sein könnte. Man sieht eine Schaufensterpuppe im Abendkleid, auf die es herabregnet. Gefahren wird sie von einer Figur mit einem Haifischkopf ("... und der Haifisch der hat Zähne" aus Bert Brechts Dreigroschenopfer fiel uns spontan ein.) Dieses Taxi stand in etwas anderer Form in der oben genannten Ausstellung und zwar im sogenanten Vorhof, durch den man eintrat. 

Die auf den Vorhof folgenden "Plus belles rues de Paris" waren ein langer Gang mit Straßenschildern vor denen an der Wand provozierend als Sexualobjekte gestaltete und meist unbekleidete Schaufensterpuppen standen; ingesamt 16 Figuren von gestaltet u.a. Marcel Duchamp, Max Ernst, Joan Miró, Man Ray, André Masson, Yves Tanguy und Wolfgang Paalen.

- Raoul Ubac, Fotografie des Mannequins von André Masson, 1938  (man kann das Bild mit den Tasten Strg und + vergrößern)

Die Figur hatte für uns durchaus etwas Verstörendes: eine nackte Frau, nur die Scham mit einem merkwürdigen Ornament bedeckt; den Kopf in einem Käfig; der Mund verschlossen durch eine Maske mit einem sexuell betonten offenen und schwellenden Lippen. Hingewiesen wird im Text zur Ausstellung auf Wikipedia, dass die Motive und Verfahren des Surrealismus in Verschleierung und Enthüllung bestanden. Die Werke waren damit auch Ausdruck von gefesselter Begierde und der Macht der unbewussten Triebe und bildeten zugleich einen Tabubruch, der besonders deutlich wird, wenn man bedenkt, dass 1938 die Welt noch nicht in dem gleichen Maße sexualisiert war wie heute. In der Beschreibung heißt es dazu, dass in dem Vogelkäfig rote Fische aus Zelluloid angebracht sind. Der Knebel bestand aus einem Samtband und an Stelle des Mundes ist ein Stiefmütterchen angebracht. Unter der Puppe "wuchsen aus einem Boden von groben Salzkörnern kleine, in Fallen gefangene rote Paprikaschoten, die sich wie viele winzige Erektionen zum Geschlecht der Puppe hinaufstreckten."

Einen Eindruck von einer Reihe der Figuren in den "schönsten Straßen von Paris" bekommt man durch die Fotografien durch die Broschüre

- Man Ray,  Resurrection des Mannequins, 1966.

Der Fotograf gestaltete übrigens auch selbst eine der Figuren.

Durch den Gang ging es in den Ausstellungsraum und wir haben uns als erstes 

ein historisches Foto 

davon angesehen. Ja, es stimmt, da hängt was von der Decke und es ist dunkel, weil ein Besucher eine Taschenlampe trägt. Auch der Fußboden sieht eigentümlich aus. Aber es gibt auch Ausstellungswände mit Bildern, wie es sich für eine Ausstellung gehört. Was also sieht man auf diesem Bild?  

An den Wänden und an zwei Drehtüren von Duchamp hingen – schwach beleuchtet – Gemälde, Collagen, Fotos und Grafiken. Zudem waren auf verschiedenen Untersätzen Objekte aufgestellt. Der Raum selbst war mit Hilfe von Objekten und Gegenständen aus der Natur und der Zivilisation in ein - wie Wikipedia zitiert: "finster-absurdes Ambiente verwandelt: weniger Ausstellungsraum als Höhle und Schoß." Darin war ein echter Seerosenteich, genannt Avant la mare, mit Schilf, Seerosen, Efeu und Wasser in einer mit Plastiktuch ausgefüllten Bodenfalte installiert (der, in dem die Schauspielerin plantschte). Dabei stand ein Podest mit einer Feuerschale. Der Boden war mit nassem Laub und feuchter Erde aus dem Friedhof Montparnasse bedeckt. 

Marcel Duchamp ließ von der Decke 1200 Kohlensäcke herabhängen, die mit Zeitungspapier gestopft waren. Trotzdem rieselte schwarzer Staub von oben herab!  In den Ecken des Raums standen vier prächtige Betten, vor einem ein alter, mit Efeu berankter Stuhl, als Sinnbild der Entmachtung des Männlichen (Thron) durch das Weibliche (Natur). Tatsächlich muss es die erste multimediale Ausstellung gewesen sein, denn auch Gehör- und Geruchssinn wurden angesprochen. In dem sowie dumpf wirkenden Raum erklangen Marschschritte von Soldaten und nebenan geröstete Kaffeebohnen verströmten ihren Duft! Es gibt übrigens ein Bild von einem späteren Nachbau des Ausstellungsraums, der uns die Gestaltung etwas mehr erhelllte. 

Wir haben uns aber nach diesem Überblick über die Gestaltung auf einzelne in der Ausstellung gezeigte Werke konzentiert und zwar zuerst auf 

- Salvador Dali, Der große Masturbator, 1929,

ein Gemälde, auf dem man sich erstmal zurecht finden muss. Also, was haben wir gesehen? Eine Art Tierkörper mit Frauenkopf, an dem unten eine Mücke saugt, auf deren Unterkörper ein Ameisenhaufen herumkrabbelt. Das Gesicht der Frau ist hingebungsvoll angehoben, so dass Nase und Mund fast das Geschlecht des nackten Mannes vor ihr berühren, das allerdings mit einer grauen Unterhose bedeckt ist und dessen Beine blutende Wunden aufweisen, während sein Oberkörper außerhalb des Bildes verschwindet. Und dann fiel uns auch noch unter dem Bauch des Tier-Frauenkörpers ein eng umschlungenes kleine Paar auf, bei dem die Fels zu einem Felsblock erstarrt zu sein scheint. Ein riesiger Wunschtraum und der bescheidenen Wirklichkeit entgegengesetzt?

Darauf folgte von 

- Marcel Duchamp, La Bagarre d'Austerlitz (Die Schlägerei von Austerlitz).

Ja, wirklich die Schlägerei und nicht die Schlacht, denn Duchamp spielt mit diesem merkwürdigen Objekt nur mit dem Wortspiel auf den berühmten Ort in Mähren an, wo Napoleon eine Allianz aus österreichischen und russischen Truppen besiegte. Es handelt sich, wie auf der Website der Stuttgarter Staatsgalerie zu lesen ist, um die doppelseitige Miniatur eines Fensters. Außen ist Backsteinmauerwerk aufgemalt, die auf dem Bild sichtbare Innenseite mit grau gestrichenem Holz eingefasst. Dort heißt es auch, dass man den Titel des Werks phonetisch als "Là-bas Gare d'Austerlitz" (Dort am Bahnhof Austerlitz) verstehen kann. Dort war Duchamp 1913 in einem Rohbau gezogen und hatte beschlossen, die "reine Malerei" (la pure peinture) aufzugeben und sich künstlerisch alltäglichen Objekten zuzuwenden. Diese "Schlacht" gegen die Manierismen der modernen Kunst scheint er mit diesem Objekt und seinem Titel als gewonnen zu verkünden, auch wenn es für ihn eher eine Schlägerei war!

Um ein ganz anderes Objekt handelt es sich bei dem 

- Ultramöbel von Kurt Seligmann,

das ebenfalls in der Ausstellung stand. Schaut man genau hin, sieht man vier gleiche abgewinkelte Frauenbeine.  Alle stecken in Seidenstrümpfen mit Naht und dem gleichen hochhackigen Schuh. Dort wo sich der Schoß der vier Beine befindet, liegt ein Stoff über ihnen und darauf ist ein Kreuz aufgesetzt, das wie ein Sessel gepolstert ist. Das ließ bei uns viele Assoziationen aufkommen und zugleich erinnerte es uns an alle die merkwürdigen Tische und Stühle, die seitdem aus Frauenkörperteilen geformt worden sind: weibliche Körperteile als Versatzstücke für die Bequemlichkeit?

Eines der wenigen Werke von Frauen in der Surrealisten-Ausstellung war

- Meret Oppenheim,  Objekt. Paris, 1936.

Tasse, Untertasse und Teelöffel sind hier nur scheinbar alltäglich. Denn die Künstlerin hat sie durch den Überzug mit dem gesprenkelten hellbraunen Fell einer chinesischen Gazelle ver- und entfremdet. Im Text auf der Website des MoMA heißt es, dass der Anlass ein Scherz war: Meret Oppenheim saß 1936 mit Dora Maar und Pablo Picasso in einem Pariser Café und ihre beiden Freunde scherzten über ihr pelzbesetztes, poliertes Metallarmband und meinten, dass man alles mit Pelz überziehen könne. "Sogar diese Tasse und diese Untertasse", antwortete die Künstlerin. Später kaufte sie in einem Kaufhaus die weiße Teetasse, mit Untertasse und Löffel und machte sie durch den Fellüberzug zum Kunstobjekt. Diese Gegenstände der häuslichen Entspannung - Teezeremonie, five o'clock tea könnten die Assoziationen sein - sind so zugleich ein wenig verstörend und humorvoll dem Luxus eines - weiblich konnotierten - edlen Pelzes gegenüber gestellt und zugleich damit übertüncht.

Auf ganz andere Weise verstörend wirkte auf uns das Ölgemälde

Max Ernst, L'Ange du Foyer ou le Triomphe du Surréalisme (Der Engel des Hauses oder der Triumph des Surrealismus), 1937,

von dem es insgesamt drei Versionen gibt. Dieses ist die dritte Version, in der die Figur des "Engels" einen großen Teil des Bildes einnimmt. Die Figur lässt sich verschieden interpretieren: Wer sieht die schmerzverzerrte, vor irgendetwas fliehende Gestalt? Und wer fühlt die drohende, auf den Betrachter mit Macht einstürzende Gewalt der Figur, die mit einem Steinmesser in der erhobenen Hand gleich zuschlagen will. Was bedeutet der Pferdekopf, der in einen zahnbewehrten Vogelschnabel übergeht, der gefährlich aufgerissen ist? Und was zerrt an der Seite an der herabstürzenden Gestalt, die in einem Wirbel von bunten Stoffen gekleidet ist? Uns fiel dabei besonders der Widerspruch auf zwischen der Bezeichnung des Bildes und dem, was wir sahen!

Übrigens ist der Engel in der früheren Version noch deutlich weniger bedrohlich!

Das waren natürlich nur ein paar wenige Bilder aus der Ausstellung von 1938. Wer mehr wissen will, kann auch hier noch weiterschauen und lesen. 

Bildnachweis:  Von Robert Delaunay - Blue Mountain Project, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74002259