Freitag, 7. Juli 2023

Nordart 2023

Zur Zeit und noch bis zum 8. Oktober 2023 findet wieder die "Nordart" im Kunstwerk Carlshütte in Büdelsdorf statt. Wir haben sie im Juni virtuell und ich persönlich habe sie inzwischen auch real besucht. Diese internationale Ausstellung zeitgenössischer Kunst findet zum einem in den Hallen der ehemaligen Eisengießerei und im Freien auf dem parkartigen Gelände der daneben liegenden Villa statt.

Dieses Jahr haben wir uns nicht wie bei unserem letzen virtuellen Besuch im Jahr 2018 um den Landesschwerpunkt der Ausstellung - dieses Jahr war es die Türkei - gekümmert, sondern ich habe mir das ausgesucht, was ich interessant fand. Zwei Werke von Lilya Corneli aus ihrem Zyklus "To be a muse" habe ich an den Anfang gestellt, weil Uta mich darauf aufmerksam gemacht hat.

Lilya Corneli, To be a muse (Hängung auf der Nordart 2023)
Dazu muss man wissen, dass diese Künstlerin berühmte Porträts mit einer Genauigkeit fotografisch nachstellt, die auf den ersten Blick total verblüfft. Das kommt in der Ausstellung nicht wirklich zum Tragen, weil dort nur die Fotografien zu sehen sind (siehe das nebenstehende Bild), während auf der Internetseite der Künstlerin viele der Fotos mit ihren berühmten Vorbildern zusammengestellt sind. Auf dem PDF, das die Nordart für jeden beteiligten Künstler veröffentlicht hat, steht von und über die in Armenien geborene Künstlerin zu lesen: „Meinen Platz in einer anderen Kultur zu finden, war eine echte Herausforderung, und vor der Kamera zu stehen, wurde für mich zu einer persönlichen Therapie. ... Mit der Zeit führte der Heilungsprozess der Selbstporträts zu echter Selbsterkenntnis und von da an zu aufregenderen Ausdrucksformen der Persönlichkeit unter Verwendung von Requisiten, Posen und Nachbearbeitungen. Das Ergebnis ist die Arbeit, die ich gerne mit der Welt teilen möchte."

Wir haben zuerst eines ihrer Vorbilder

- Lukas Cranach d. J., Porträt einer vornehmen Dame, 1564 

aufgerufen und dann das Foto

- Lilya Corneli, Cranach, Porträt einer vornehmen Dame  

damit verglichen. Der unterschiedliche Blick der beiden Frauen war sofort Thema. Uns schien die Künstlerin viel selbstbewusster als die vornehme Dame auf Cranachs Bild. Dann erst stolperten wir über die vielen kleinen eigenen Zutaten der Künstlerin, wie die schwarze Baseballkappe mit dem Schal, die Kette mit dem Wort "Peace" und den Fingering mit dem großen Schriftzug "Yes" und die breiten Armreifen, die an Metallfesseln erinnern. Und zugleich überraschte uns wie genau - z.B. ist der Schatten rechts im Hintergrund auf beiden Bildern vorhanden - die Künstlerin den Bildaufbau von Cranach nachgestellt hat.

Etwas anders ist sie bei dem folgenden Bild vorgegangen (das nicht auf der Nordart zu sehen ist):

- Pablo Picasso, Junge mit Pfeife,1905 

- Lilya Corneli, Picassos Junge mit Pfeife 

Michał Jackowski, Fast Food, 2018

In diesem Fall überblendet die Künstlerin das "Original" mit ihrem Foto und zwar so, dass der Junge fast halbiert ist, wobei Foto und Gemälde nicht überall scharf getrennt sind, auch wenn die Fotoseite des Bildes sehr viel klarere Linien und Kontraste zeigt. Auch bei diesem Bild fanden wir die Art, wie sich Blick und Gesichtsausdruck durch das Foto verändern, auffallend und eindrucksvoll. 

Als nächstes hatte ich das plastische Werk

- Michał Jackowski, Fast Food, 2018, 

ausgesucht, das schon auf der vorjährigen Nordart zu sehen war.

Michał Jackowski, Fast Food, 2018
Dieses Jahr hat der Künstler einen eigenen Pavillon für seine Werke erhalten, der nach Art eines griechischen Tempels gestaltet ist. Vor ihm steht die Skulptur und im PDF heißt es dazu, dass sie die Betrachtenden zu einem Tempelbesuch einlädt. Und es wird erklärt, dass "der hölzerne Kopf der antiken Venus, einem Fast-Food-Burger-Brötchen gleichend", mit "englischem Zeitungspapier und Salat aus bronzenen amerikanischen Ein-Dollar-Scheinen gefüllt" ist und an die 1962 von Claes Oldenburg geschaffene Skulptur "Floor Burger" erinnert. Die Fotos, die ich auf der Nordart gemacht habe, zeigen ganz gut, wie die Skulptur aufgebaut ist. Die Diskrepanz zwischen dem Thema der Skulptur sowie der Gestaltung und Wahl der Materialien war für uns besonders frappierend. Zum einem das schnelle und mit fast maschineller Perfektion in immer gleicher Weise hergestellte "Lebensmittel" und zum anderen Holz, Marmor und Bronze als kostbare und dauerhafte Materialen. Und dann besteht das Lebensmittel auch noch aus dem zerschnittenen Kopf der Göttin der Liebe, der mit "News" und Dollarnoten gefüllt ist.

Das nächste Werk, das ich ausgesucht habe, ist ein Öl- und Eitempera-Gemälde auf Holz, also ein Werk, das ganz in der Manier alter Meister hergestellt ist. Das Bild ganz unten auf dem PDF der Nordart wird beim Vergrößern leider schnell unscharf, so dass wir nicht alles gut erkennen konnten:

- Madeline von Foerster, Die Herkunftsgeschichte, 2023.

Madeline von Foerster, Die Herkunftsgeschichte, 2023
 
Zunächst haben wir geklärt, was auf diesem - auf den ersten Blick verwirrenden - Bild zu sehen ist. Hauptperson ist eine liegende weibliche Figur, die an einen Roboter oder eine Kleiderpuppe mit beweglichen Gliedern erinnert. Sie liegt in einer Art Schaukasten und auf dem Fell eines Tigers, dessen ausgestopfter Kopf links aus dem Rahmen des Kastens herausragt. Zahlreiche exotische oder auch koloniale Gegenstände "bevölkern" mit ihr den Schaukasten; am auffälligsten links der Kopf eines Nashorns, der an der Seitenwand hängt; aber auch ein farbenfreudiger Kolibri, Stoßzähne von Elefanten, ein Kasten mit aufgespießten bunten Schmetterlingen, ein Kugelfisch und Korallen sind zu finden. Und was ist das Weiße ganz links?
Ausschnitt aus dem obigen Werk
Ich habe noch mal nachgesehen: Es handelt sich um eine kunstvolle Drechslerarbeit (Contrefait-Objekt) aus Elfenbein, bei der sich im Inneren einer Hohlkugel eine Kapsel befindet, die man von außen durch ein Sehloch sehen kann. Dabei ist das Innenteil aus demselben Stück Elfenbein gedreht wie das ganze Objekt. Solche Spielereien waren im 17. Jahrhundert sehr beliebt; also in einer Zeit, in der auch die sogenannten Kunst- und Wunderkammern und  Kleinodienschränke ihre Blütezeit erlebten. Ihnen ähnelt das Bild von Madeline von Foerster. Will sie genauso wie solche Sammlungen den universalen Zusammenhang aller Dinge darstellen und damit eine bestimmte Weltanschauung vermitteln? Neben dem Elfenbeinobjekt liegt übrigens ein kleiner Totenkopf aus rotem Material (Koralle?) und eine exotische Muschel. Hinter dem Kopf der Frauenfigur ist ein berühmter Stich zu sehen: Die Tafel II zum Stichwort Anatomie aus der Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert. Die Frauenfigur selbst scheint auf ein historisches Buch mit botanischen Abbildungen konzentriert zu sein. Doch fiel uns auf, dass ihr Blick nicht auf die offene Buchseite mit der Darstellung einer Eiche - ein sehr deutscher Baum! - gerichtet ist. Wir fragten uns, ob das Bild als Herkunftsgeschichte des weiblichen Teils der Menschheit oder als der ganz persönliche Kleinodienschrank der Künstlerin zu lesen ist. Aber sicher eröffnen sich noch mehr Interpretationsmöglichkeiten und das ist ja das interessante an der zeitgenössischen Kunst!

Einen anderen Zugang zur europäischen Kunst wählt die Künstlerin Mari Terauchi aus Japan. Wir sahen uns zuerst ihr Vorbild an:

- Annibale Carracci, Salma di Cristo (Leichnam Christi), ca. 1583-1585.

 Die ungewöhnliche Sicht auf den malträtierten Körper Christi ist natürlich sehr auffallend. Die Augenhöhe des Betrachters befindet sich nur wenig über den Füßen des Leichnams, so dass man den Körper in starker Verkürzung liegen sieht. Diese ungewöhnliche Sichtweise ist ein typisches Merkmal des Manierismus.

Die japanische Künstlerin hat dieses Bild in die Dreidimensionalität umgesetzt, also daraus eine Plastik gemacht. Sie ist in der Ausstellung deutlich unterlebensgroß und so niedrig aufgestellt, dass man sie gut von oben betrachten kann. 

- Mari Terauchi, Salma di Christo 

Terauchi erschafft mit dieser dreidimensionalen Analyse des zweidimensionalen Kunstwerkes eine neue Perspektive auf das Bild und lässt dabei die Verrenkungen des toten Körpers deutlich erkennen. Auf einem Foto der Skulptur, das aus derselben Perspektive aufgenommen ist wie das Gemälde, wirken beide ganz ähnlich. Doch alle anderen Perspektiven auf das plastische Werk eröffnen völlig neue Bilder: 

Mari Terauchi, Salma di Christo

Mari Terauchi, Salma di Christo

Mari Terauchi, Salma di Christo

Als letztes Bild haben wir das Foto von

- Evangelos Koukowitakis, O.T. 2, 2022 (Achtung, das Bild ist ganz unten im PDF zu finden!)

aufgerufen, das mir persönlich sehr gut gefällt. Harald erklärte uns, wie man die "Pusteblumen" so vollständig erhalten kann, wie sie auf dem Bild zu sehen sind: Man muss dazu noch ungeöffnete Samenstände des Löwenzahn nehmen und durch den Stiel einen Draht schieben. Dann halten sich die geöffneten Samenstände sozusagen ewig. Allerdings hat der Fotograf hier die Stiele in sich verbogen angeordnet und sie in einem Glas zusammen mit dem spiegelnden Teller, auf dem ein Stück Gräte liegt, zu einem sehr ästhetischen Stilleben angeordnet, das zugleich einen morbilden Charakter hat. 

(Zu den Fotos: Ich habe sie alle selbst auf der Nordart gemacht und dort um die Veröffentlichungserlaubnis erbeten, die mir mit Mail vom 4.7.2023 gegeben wurde.)