Freitag, 29. April 2022

Renoir und das Rokoko

Im Städel Museum in Frankfurt ist bis zum 19. Juni 2022 die Ausstellung "Renoir. Rococo revival. Der Impressionismus und die französische Kusnt des 18. Jahrhunderts" zu sehen. Wie immer bietet dieses Museum mit einem Digitorial und einem kostenlosen Audioguide, den man als App herunterladen kann, hervorragende Möglichkeiten sich im Voraus und vor Ort mit den ausgestellten Bildern auseinanderzusetzen (zu finden links auf der Ausstellungseite unter "Digitale Angebote").

Beim Kunstsurfen kam natürlich mit dem Titel der Ausstellung gleich die Frage auf: Wieso Rokoko? Renoir gehört doch zum Impressionismus und das Rokoko war doch hundert Jahre früher? Die Antwort fanden wir dann im Laufe der Bildbetrachtungen. Zuerst aber kurz eine Erklärung des Rokoko, dessen Name vom französischen "Rocaille" abstammt, das Muschelwerk (roc=Fels und coquilles=Muscheln) bedeutet. Wir haben uns dazu eine

- Rocaillekartusche, Wanddekoration in der Klosterkirche in Altomünster, Stuck von Jakob Rauch 1766-1768

angesehen und festgestellt, dass neben dem vorherrschenden Gold und Weiß die unregelmäßig ausufernde Form auffallend ist.

Antoine Watteau, Die Einschiffung nach Kythera, 1717

Das Rokoko ist ein Dekorations- und Malstil aus der Zeit zwischen 1715 und 1780, der in der Architektur ebenso wie in Kunst und Mode aktuell war. In Frankreich war das besonders die Zeit des Königs Ludwig XVI. und der Königin Marie Antoniette. Damals wurde die Malerei immer weltlicher und die galante Welt wurde - mit einer erotischen Tendenz - bildwürdig. Bei Hofe wünschte man sich das Leben als "Schäferspiel" und die Künstler malten Liebesszenen, Idyllen, schöne Landschaften und Festlichkeiten im Freien. In Frankreich führte das zu dem neuen Bildtypus der fêtes galantes, der von Jean-Antoine Watteau erfunden wurde; Bilder mit verliebten Paaren, schönen Damen und Hirten in ländlicher Landschaft. Nach der französischen Revolution 1789 dann galt das Rokoko als unmodern und rückwärtsgewandt und man wandte sich antiken Vorbildern zu.

In der Ausstellung wird als erstes eine Verbindung zwischen der Bildgattung der "Galanten Feste" und einem Gemälde von Auguste Renoir (1841–1919) hergestellt, die wir nachvollzogen haben. Dazu erkundeten wir zuerst

- Watteau, Die Einschiffung nach Kythera von 1709/10.

Die kleinen schwebenden Putten fielen zuerst auf, dann erkannten wir auch die Barke mit ihrem hohen einer Sänfte ähnlichen Aufbau, die von weiteren Putten an das Ufer gebracht wird, und erst danach beschäftigten wir und mit den Gestalten am Ufer, die zur Liebesinsel Kyhtera übergesetzt werden wollen. Dabei kam noch kurz Zypern in's Spiel. Tatsächlich gelten nach der griechischen Mythologie sowohl Kythera wie Zypern als Insel der Aphrodite. Auf beiden erzählt man, dass die Liebesgöttin dort aus dem Meeresschaum geboren an Land gekommen sein soll.

Auf diesem Bild sind die farbig gekleideten Damen und Herren noch relativ steif nebeneinander aufgereiht. Das ändert sich auf dem zweiten Bild Watteaus mit demselben Thema

- Watteau, Die Einschiffung nach Kythera, 1717

Die Putten in der Luft und die Barke erkannten wir wieder. Die Insel, die man auf dem ersten Bild im Hintergrund rechts sieht, ist hier zu einer winzigen schwarzen Form im Hintergrund geschrumpft. Dagegen aber gibt es ein regelrechtes Menschengetümmel im Vordergrund. Unten am Ufer wartet eine Menge von Paaren auf die Einschiffung. Oben auf dem Hügel befinden sich drei weitere junge Paare: Ganz rechts sitzt eines eng beieinander - ins Gespräch oder vielleicht auch in Zärtlichkeiten vertieft, während rechts davon ein halbnackter Knabe auf einem Köcher mit Pfeilen sitzt und am Rock der Frau zupft. Amor grüßt! Links daneben reicht ein Mann seiner Dame die Hände, um ihr beim Aufstehen galant zu helfen. An ihrer Seite umfasste ein zweiter, dessen Rückenansicht wir sehen, seine Dame an der Taille, um sie zum Boot zu führen. Tändelei und Liebespiel liegen in der Luft.

Als wir danach das Bild

- Renoir, Der Spaziergang von 1870 (J. Paul Getty Museum, Los Angeles) (man kann das Bild mit dem Symbol rechts unten vergrößern!)

betrachteten, fiel uns auf, dass der Künstler eine flirrende, sommerliche Atmosphäre wiedergibt, in der das Paar wie eine Vergrößerung aus dem zweiten Bild von Watteau wirkt. Auch zwischen diesen beiden Personen scheint eine erotische Spannung zu bestehen, wenn man die leicht verschämte Haltung der jungen Frau und die zarte Berührung der Hände in Betracht zieht.

Kurz haben wir uns dann der Ausbildung Renoirs zugewandt, der ab 1854 in der Werkstatt der Lévy-Frères et Cie in Paris als Porzellanmaler begann. Die Firma stellte Porzellane mit Motiven her, die häufig an Werke von Rokoko-Malern wie Watteau, Boucher oder Nicolas Lancret (1690–1743) angelehnt waren. Skizzenblätter seiner Studien sind erhalten: 

- das Skizzenbuchblatt mit Studien von Figuren, die nach der Mode des 18. Jahrhunderts gekleidet sind, sowie einer von Kartusche und einer Girlande.

Bei dem jungen Mann fiel uns allerdings auf, dass unklar ist, ob und welche Beinkleider er trägt, während das junge Mädchen einer Tänzerin zu ähneln scheint.

Wie aber kam es überhaupt dazu, dass der Stil des Rokoko in Frankreich wieder aufgenommen wurde? Dazu schreibt das Städel Museum, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in Frankreich ein neues Bewusstsein für die Kunst des 18. Jahrhunderts entsteht: So eröffnete die Pariser Galerie Martinet im Juli 1860 Sonderschau zur Kunst des französischen 18. Jahrhunderts. 1869 schenkte Louis La Caze dem Louvre 1869 viele Werke von Meistern wie Boucher, Chardin, Fragonard und Watteau. Zwischen 1859 und 1875 veröffentlichten die Brüder Goncourt eine Artikelserie über die Kunst im 18. Jahrhundert. Aber besonders nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) wurde dann das 18. Jahrhundert zur glanzvollen Ära der französischen Kultur verklärt, auf die man stolz sein konnte. Damit waren auch charakteristische Merkmale der Kunst des Rokoko wieder gefragt: Weibliche Anmut, modische Eleganz und Sinnlichkeit wurden von den Künstlern dargestellt und das neu zu Ansehen gekommene Bürgertum stattete seine Wohnungen im Stil dieser Zeit neu aus. Wir haben das an dem Foto vom

- Salon des Kunsthändlers Paul Durand-Ruel (der Renoirs Werke verkauft) 

studiert und uns gleich dazu das Bild 

- Renoir, Tanzendes Paar 

angesehen, das man auf dem Foto an der Wand hängen sieht. Auch Renoir malte im Rückgriff auf die Zeit des Rokokos elegante Paare, Genre- und Boudoirszenen, Akte und Stillleben, wobei dieses Paar uns besonders beeindruckte, weil man zu sehen meint, wie es sich eng aneinandergeschmiegt im Walzertakt dreht. 

Mit dem folgenden Bild sind wir noch einmal in das 18. Jahrhundert zurückgekehrt:

- Jean Baptiste Pater, Ländliches Fest, um 1730 Fete Champetre

Genau haben wir uns die einzelnen Figurengruppen angeschaut, die zum größten Teil aus eng miteinander verbundenen Paaren bestehen, während im Zentrum sozusagen die Königin des Festes vor einem Brunnen ausruht und gerade mit Blumen bekränzt wird. 

Länger verweilten wir bei dem Bild 

- Jean-Honoré Fragonard, Die Schaukel, c.1767-8,

das auf den ersten Blick sommerliche Leichtigkeit ausstrahlt. Die junge Frau fliegt hoch nach oben und wirbelt mit dem Schwung der Schaukel ihren Schuh in die Luft. Erst wenn man genauer hinschaut, entdeckt man den Mann hinter ihr, der an den Tauen der Schaukel zieht. Ist er unbeteiligt oder ist er vielleicht ein Mitwisser, der weiß, dass sich links unten im Busch ein junger Mann versteckt? Über diesem steht ein steinerner Putto, der seinen Finger an die Lippen legt, und damit auch uns als Betrachtende zum Schweigen auffordert. Der junge Mann jedenfalls genießt - errötend? - den tiefen Einblick, der sich ihm mit den entblößten Schenkeln des Mädchens bietet. 

Das Motiv der Schaukel hat auch Renoir aufgenommen 

- Renoir, Die Schaukel 1876 

und  auch, wenn auch hier eine junge Frau auf einer Schaukel steht und eine sommerliche Athmosphäre draußen im Grünen gezeigt wird, so hatte das Bild doch eine andere Ausstrahlung für uns. Die junge Frau wurde als ängstlich, zurückhaltend wahrgenommen. Auch hier geht es um zwei Männer und eine Frau auf der Schaukel, aber das erotische Moment und der Voyeurismus des Rokoko-Bildes fehlt. Die Schaukel ist anscheinend im wesentlich prüderen Bürgertum angekommen...

Die Wandlung eines Bildmotivs verfolgten wir auch noch einmal mit dem Bild eines Boudoirs nach:

- Francois Boucher, Die Morgentoilette

In der Ausstellung wird betont, dass im Rokoko mit dem Boudoir erstmals am Königshof ein eigener Rückzugsraum für Frauen entstand. Die Unordnung in dem von Boucher gemalten Raum fiel zuerst ins Auge. Da liegt alles Mögliche am Boden: ein Fächer, ein Staubwedel, ein Blasebalg. Die Katze spielt mit einem Wollknäul. Das Kaminsims ist vollgestellt. Und eines der beiden Strumpfbänder hängt über seinen Rand, während wir deren Besitzerin dabei beobachten, wie sie das andere festschnürt und sich dabei eine Haube von einer Dienerin zeigen lässt. Die ganze Szene spielt vor einem bemalten chinesische Wandschirm, der den Hintergrund verstellt.

Und wie malt Renoir einen solchen Rückzugsraum?

- Renoir, Madame Monet lesend 1872 

Ein Sofa reich mit Kissen ausgepolstert, die bunt bestickt sind, und darauf fast liegend die Frau des Malers Monet. Ihr bunter Hausmantel verschmilzt fast mit dem Sofa und sie selbst ist ganz vertieft in ein offenbar vielgelesenes Buch. Hier zieht sich eine Hausfrau zurück in eine andere Welt, die für niemanden zugänglich ist und Voyeuren keinen Anlass zum Schauen bietet. 

Man könnte einwenden, dass es sich bei diesem Bild von Renoir nicht um ein Boudoir und eine Ankleideszene handelt, deswegen folgte zum Schluss das Bild der Malerin und Schwägerin von Édouard Manet

- Berthe Morisot, Der Ankleidespiegel 1876, 

Auch hier sehen wir einer Frau zu, die sich ankleidet. Sie betrachtet sich dabei im Spiegel, eine Hand im Rücken aufgestützt. Der Spiegel wird übrigens auf Englisch "Psyche mirror" genannt, da er die ganze Figur wiedergibt und sich kippen lässt. Uns fiel besonder die kokette Pose auf, mit der die junge Frau in ihrem weißen Unterkleid ihre linke Hüfte vorgeschiebt und dabei den Träger von der nackten Schulter rutschen lässt. Und doch scheint sie zugleich versunken in ihr eigenes Bild, das nicht nur vom Spiegel, sondern auch von den weißen Vorhängen und dem Sofa gerahmt wird, bei dem weiße und farbige Pinselstriche eine besondere Leuchtkraft erzeugen. Auch hier erscheint die dargestellte Frau ganz in ihre eigene Welt versunken. 

Damit erreichen diese Bilder einen "charakteristischen Schwebezustand", wie es in der Ausstellung heißt. Es werden "Momente der Freude, des Genusses und der Zerstreuung" dargestllt, "ohne einen Handlungszusammenhang herzustellen oder gar belehren zu wollen."