Donnerstag, 17. März 2022

Der ukrainische Kosak Mamai

By Unknown author - [1], Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7607568

Der Krieg in der Ukraine ist uns näher als alle anderen Kriege, von denen wir Senioren, die zum Teil noch im, zum Teil bald nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden sind, während unseres langen Lebens erfahren haben. Bei manchen rufen die Berichte von Raketenangriffen, Bombenabwürfen und Panzerkolonnen alte Kindheitstraumata hervor. Ich habe das nicht mehr erlebt, sondern nur als Kind neben Ruinen gespielt. Ausdrücklich weise ich auf diese Seite hin, auf der zur Hilfe für die Menschen in der Ukraine aufgerufen wird!

 Ich selbst will den Schrecken nicht verdrängen, aber ich will mich davon auch nicht vereinnahmen lassen. Deshalb habe ich mich jetzt mit der ukrainischen Kunst beschäftigt und bin dabei auf den Kosaken Mamai gestoßen. Mein neues Wissen habe ich mit den Kunstsurfer*innen geteilt:

Wir haben als erstes ein Bild des Kosaken aufgerufen, wobei angemerkt wurde, dass Kosaken doch eigentlich als russische Kämpfer bekannt sind - schließlich kennen wir alle noch den "Don Kosaken Chor" von Serge Jaroff.

- Unbekannter Maler, Kosak Mamai, 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts (das Bild sieht man auch hier im Blog)

Die erste Frage ist immer, was denn auf dem Bild zu sehen ist. Das runde Saiteninstrument fiel uns auf, der melancholische Blick des Mannes, die merkwürdige Haartracht, das Pferd und die Lanze - ist das eine Lanze? - die beiden Frauen, die Mütze am Boden, die Flasche und die Tasse daneben, und wieso sitzt der Kosak Mamai eigentlich am Boden und nicht auf seinem Pferd? 

Und was erfährt man im Internet zum Kosaken Mamai. In der Wikipedia heißt es, dass er in Legenden, Volksmärchen und Sprichwörtern auftritt und nach der Auflösung der Saporoger Sitsch im Jahr 1775 sehr beliebt wurde. Zu den Saporogern kommt unten noch mehr! Mamai gilt als der, der durch die Welt zieht und Menschen in Not hilft, für die Wahrheit kämpft und Verbrecher bestraft, sowie als Beschützer des ukrainischen Volkes, Steppenbewohner und Weiser. So ähnlich kann man das überall lesen und weil mir das nicht genug war, hab ich nach mehr Informationen gesucht. Aus einem russisch-englischen Buch, das es online gibt, habe ich folgende Angaben zussammengefasst:

Mamai hieß der Emir (militärische Führer) der Blauen Horde, die sich von der Goldenen Horde in dem Versuch abgesplittert hatte einen eigenen Staat zu etablieren. Er kontrollierte das Gebiet der Goldenen Horde auf der Krim und entlang der Schwarzmeerküste und wurde 1380 in der Schlacht von Kulikovo geschlagen. Mamais Nachfolger regierten aber weiter in der Steppe nördlich des bis dahin regierten Gebietes. Als das Land der Ukraine im 15. Jh. zwischen Polen und Litauen aufgeteilt war, verband sich der Name Mamai eng mit den Kosaken, die diese Gegend beherrschten. Bis in das 19. Jh. hinein wurden sie übrigens Mongolen oder Tartaren genannt. Und noch heute gibt es in dieser Gegend den Nachnamen Mamai. Daneben aber sind eine ganze Reihe Kosaken mit dem Namen Mamai als historische Persönlichkeiten bekannt, die bei Aufständen und Kämpfen gegen die Polen eine Rolle spielten.

Es gab einen Franzosen, mit Namen Dominique Pierre de la Flise (1787-1861), der mit Napoleons Truppen in die Ukraine kam und dort einen großen Teil seines Lebens verbrachte und das Land beschrieb. Bei ihm steht zu lesen:

"Es gibt auch eine unter den Leuten weit verbreitete Geschichte über einen Räuber namens Mamai, dessen Bild in vielen Häusern zu finden ist. Er sitzt unter einer Eiche, spielt eine Bandura (eine Art Gitarre), ein Mann hängt in der Ferne an einem Baum, und darunter stehen folgende Worte:

Obwohl du mich ansiehst, wirst du es nicht erraten
nicht wie ich heiße und nicht woher ich komme,
nicht mal meinen Spitznamen,
Nur wer in der Steppe war, kann meinen Nachnamen erraten.
Ein Jude in Schwierigkeiten wird mich als Vater ehren,
Und die dummen Polen rufen mich gnädiger Herr,
Und du, nenn mich, wie du willst,
nur nicht einen Ladenbesitzer.

Im Bezirk Chyhyryn in der Nähe des Dorfes Tscherkassy wurde ich zu einer riesigen, längst verdorrten Eiche gebracht. Sie wird die Eiche des Räubers Mamaia genannt. Im Schatten dieser Eiche errichtete er einst seinen Unterschlupf, und an den Ästen dieses Baumes hängte er Polen und Juden auf, die ihm in die Hände fielen, und später wurde er selbst daran gehängt." (Nach: de la Flise, Ethnographische Beschreibungen der Bauern des Kiewer Gouvernements ...., 1854, Kap. VI. Volkstraditionen zu finden auf russisch auf dieser Seite, wenn man sie auf "google chrome" öffnet, kann man sie auf Deutsch übersetzen lassen.)

Wir haben uns noch ein zweites Bild von Mamai angeschaut, ebenfalls von einem unbekannten Maler

- Gespräch zwischen einem Kosaken und einem Polen, 1. Hälfte 19. Jh.

Natürlich fiel uns auf, dass der Pole mit einer langen Nase gemalt ist. Das Gespräch kam kurz auf den stereotypen Judenhass und die typisierte negative Darstellung von Juden, die historisch in Europa und im Osten weit verbreitet war und von den Nationalsozialisten auf die Spitze getrieben wurde. Auf diesem Bild kann man übrigens die Lanze beim Pferd besser erkennen, während die Mütze am Boden hier zu einer Krone geworden ist, und in der Eiche das Krummschwert, die Tasche und die Trinkflasche des Kosaken hängen, dem von dem Polen ein Becher angeboten wird. Ach ja und wieder fällt diese Haartracht in's Auge!

Der Kosak trägt den Tschub, eine Haarsträhne, Locke oder ein Haarschopf, die oder der sich mittig oder nahe der Stirn oder auch seitlich auf einem sonst kahlrasierten Kopf befindet und als Symbol für Freiheit und Stärke gilt. Und das Saiteninstrument heißt bei den Ukrainern Kobza; das Pferd soll ein Zeichen der Freiheit und Treue sein; die Eiche, an der die Waffen hängen, gilt als Symbol für die Stärke des Volkes.

Bilder des Kosaken Mamai waren in der Ukraine weit verbreitet und hingen in vielen Häusern. Die Figur des Kosaken taucht aber nicht nur in Legenden und Liedern auf, sondern auch im einem für das Land typischen Puppenspiel dem "vertep", das auf einer zweigeteilten Bühne mit Stabpuppen - wie wir an den Bildern erkannt haben - aufgeführt wird. Dabei ist die obere Bühne den "heiligen" also christlichen Themen vorbehalten, während weltliche Themen auf der unteren Bühne dargestellt werden.

Auch auf der graphischen Darstellung von

- Taras Sevchenko (1814-1861), Geschenke in Chyryhyn von 1646, 1844 

ist das Bild des Kosaken Mamai zu finden. Allerdings brauchten wir eine Weile, bevor wir es sahen. Ja richtig, es hängt an der Rückwand dem Hauptraumes, und wenn man das Bild zweimal vergrößert, dann kann man in den Strichen den am Boden sitzenden Kosaken mit seiner Kobza sehen, hinter ihm die große Eiche und auf seiner rechten Seiten steht nach rechts gewendet sein Pferd. Übrigens habe ich  noch eine andere Version dieses Bildes gefunden. Wer Spaß daran hat, kann schauen, wie sich das Bild des Kosaken Mamai von der ersten Version unterscheidet!

Unter dem Bild steht der Titel, dann folgt auf Ukrainisch: Zeigt das Innere des Hauses von Hetman Bohdan Khemlnytskyi, Herrscher von Chigryn. Botschafter aus der Türkei, Polen und Moskau kamen nach Tschigrin, um die Loyalität des Hetmans Bogdan und des Volkes der Ukraine, eines freien und mächtigen Volkes, zu erbitten. Der Sultan schickte Bogdan nicht nur Gold, sondern auch einen Kaftan aus karmesinrotem Samt mit Hermelinfutter, einen Hetmanstab und einen Säbel..., doch der Rat der Volksvertreter mit Ausnahme des tapferen Ritters Bohoun akzeptierte nur den Vorschlag des Moskauer Zaren.

Die genannten Personen und die Geschenke stehen natürlich im Mittelpunkt dieser Grafik.

Chyryhyn - der Name wird unterschiedlich geschrieben - ist ein Ort in der Ukraine, der im 17. Jh. als eine Art Regierungssitz des ukrainischen Kosakenstaates für kurze Zeit überregionale Bedeutung erlangte.  

Der Kosake Mamai erscheint im 19. und 20. Jh. in Werken nicht nur auf volkstümlichen Bildern, sondern auch in Werken verschiedener Künstlern und noch heute ist er auf Postern, Keramik, in der Buchkunst und im Bereich von Wohnungseinrichtungen zu finden. Dewegen haben wir uns noch weitere Kosakenbilder angeschaut. Am beeindruckendsten finde ich:

- Ilja Jefimowitsch Repin (1844-1930), Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief 1880-91  

Repin war der bedeutendste Vertreter des russischen Realismus. Das Bild imponierte uns zum einen durch die Lebensnähe mit der die Gesichter der Kosaken dargestellt sind. Dass sie sich freuen und ihren Spaß haben, ist ihnen auf den ersten Blick hin anzumerken. Aber auch die Darstellung der unterschiedlichen Ansichten der Personen hat uns sehr fasziniert. Der Mann im Vordergrund, von dem der Betrachter den Hinterkopf sieht, ist gleichzeitig realistisch gemalt und ausgesprochen künstlerisch drapiert, fanden wir. Das Bild zeigt eine Szene aus dem Jahr 1676. Damals verlangte der osmanische Sultan Mehmed IV. zu Beginn des Osmanisch-Russischen Krieges von den Saporoger (auch: Saporoscher bzw. Saporoschjer; za porohamy = „hinter den Stromschnellen“) Kosaken, die am unteren Verlauf des Dnepr lebten, die Unterwerfung. Daraufhin sollen die Kosaken einen Brief an den Sultan verfasst haben (was sie sonst nicht gerade häufig taten), der so von Beleidigungen strotzte, dass der Inhalt auch hier zitiert werden soll: „Du türkischer Teufel, Bruder und Genosse des verfluchten Teufels und des leibhaftigen Luzifers Sekretär! Was für ein Ritter bist du zum Teufel, wenn du nicht mal mit deinem nackten Arsch einen Igel töten kannst? Was der Teufel scheißt, frisst dein Heer. Du wirst keine Christensöhne unter dir haben. Dein Heer fürchten wir nicht, werden zu Wasser und zu Lande uns mit dir schlagen, gefickt sei deine Mutter!“

Wer waren also die Saporoger? Laut Wikipedia war ihr Zentrum der Saporoger Sitsch (Zentralsitz) auf der Insel Chortyzja, jenseits der Stromschnellen des Dnepr. Hier ein Bild von diesem Zentrum und der Landschaft der Dnepr-Insel:

- Historisch-kultureller Komplex auf der Insel Chortyzja

Um 1500 flohen leibeigene Bauern aus Osteuropa und den polnisch beherrschten Teilen der heutigen Ukraine und Weißrusslands vor der Zwangskatholisierung und Leibeigenschaft dorthin. Auch sie wurden Kosaken genannt. Die Saporoger Kosaken waren untereinander gleich und Ehelosigkeit war Gesetz; später kamen mehr Menschen aus anderen Gegenden dazu und die Unverheirateten wurden zur herrschenden Klasse. Diese Kosaken wohnten in der Regel mit 40–60 Personen in einem Haus und führten eine gemeinschaftliche Wirtschaft; nur die Waffen, anfangs Pfeil und Bogen, später Flinte und Pistole, Lanze und Säbel, sowie Pferde besaß jeder für sich. Diese Kosaken bedrohten Konstantinopel, befanden sich seit 1589 im Krieg mit Polen. Katharina die Große ließ im Jahre 1775 die Sitsch von russischen Truppen umzingeln und aufheben.

Von diesen Kosaken hat der Maler Serhii Ivanovych Vasylkivsky (1854-1917) zahlreiche Bilder angefertigt. Wir haben uns das Bild

- Serhii Vasylkivsky, Blinder Sänger mit Kobza mit einem Führerjungen, Aquarell 19. Mai 1900

angesehen und dieses realistische Bild mit der legendären Figur des Kosak Mamai verglichen. Ein wenig mehr über das Leben der Kosaken erfährt man auch aus dem folgenden Bild desselben Malers

- Serhii Vasylkivskyi, Kosakenhaus 19. Jh. 

Das weißgekalkte Holzhaus steht auf einer Anhöhe zusammen mit zwei Nebengebäuden, ein Mann steigt gerade zu einer Frau auf die überdachte Veranda hinauf und im Vordergrund haben sich ein Mann und eine Frau zu einem Plausch getroffen, bei dem sie sich über einen wohl mit Korn gefüllten Leiterwagen lehnen. Zwei andere Personen, vielleicht Kinder stehen dabei. Wir fanden, dass das eine Szene voller sommerlicher Gelassenheit ist.

Wir haben uns danach noch ein paar weitere Darstellung angesehen, in denen ukrainische Künstler des 20. Jahrhunderts das Motiv des Kosaken Mamai übernommen haben. Auf dem Bild von

- Davyd Burliuk, Kozak Mamai (1912)

 erscheint er mit allen seinen Symbolen noch ganz in der traditionellen Art, nur der Stil des Bildes ist zeitgenössisch und erinnert mich persönlich an die Bilder der Künstlergruppe "Blauer Reiter". 

Heorhii Narbut (1886-1920) war ein sehr berühmter Maler und Illustrator in der Ukraine. Unter anderem hat er das Buch seines Bruders Volodymyr illustriert und für den Titel auf den Kosaken Mamai zurückgegriffen:

- Heorhii Narbut, Titelbild von Volodymyr Narbut's Buch 'Hallelujah', 1919; Kiev, Ukraine 

Den Kosaken mit seinem Instrument erkennt man umstandslos, aber die Handhaltung seiner rechten Hand fiel uns auf. Sie sieht aus, als ob er den Betrachter abweisen will, oder zumindestens mit der Hand "Halt stopp" entgegen ruft. Und die Eiche ist zu einem Weinstock geworden, während die Figur selbst nicht mehr in einer weiten Landschaft sitzt, sondern in eine Stadt mit Hochhaus und Fabrik versetzt ist; mit einer Fabrik, vor deren Schlot mit seinem schwarzen Rauch (?) ein mit einem Holzzaun und -tor verschlossenes Gebäude steht. 

Auch in dem Bild von

- Valentyn Zadoroshnyi, Kosak Mamai, 1980–1982

sieht man den Kosaken in einer neuen Umgebung: Der Tod sitzt an seiner einen Seite und der Teufel mit einer verführerischen barbusigen Frau auf der anderen. 

Während auf diesen beiden Bildern der Kosak selbst noch ziemlich selbstbewusst aussieht, erscheint er schließlich auf dem Gemälde von

- Feodosii Humeniuk (geb. 1941), Kosak Mamai 

eher nachdenklich und fast traurig. Auch seine Kleidung ist nicht mehr reich und pelzverbrämt. Nur das offene Hemd ist übrig geblieben von der ehemaligen Ausstattung und die Gegenstände die zu ihm gehören, wie die Kobza, liegen oder stehen hinter ihm, so dass sie nur als Andeutung zu sehen sind, wobei ein Gewehr zur Lanze hinzugekommen ist und das christliche Symbol des Pelikans, der sich die Brust aufreißt um seine Jungen zu füttern. Dieses Bild ist in der christlichen Kunst ein Symbol für Christus, der sein Blut und damit sein Leben für die Menschen hingibt. Hier ist es offenbar auf den Kosaken bezogen. 

Wie aktuell das Bild des Kosaken Mamai auch heute noch ist, zeigt schließlich die große Bronzeplastik auf dem Maidan in Kiew (wer genau hinschaut, sieht, dass auch auf diesem Denkmal alles dabei ist, was dem Kosaken Mamai zugehört, selbst die Flasche ist zu finden!):

- Mykola and Valentyn Znoba, Maidan Denkmal Kosak Mamaj, 2001.

Auf dieser Seite wird zur Hilfe für die Menschen in der Ukraine aufgerufen!