Samstag, 25. August 2018

Grayson Perry "Folk Wisdom"

Diese Postkarte aus dem Museum Kiasma in Helsinki, die
hier vor einem zum Künstler passend ausgewählten
bunten Hintergrund erscheint, zeigt Grayson Perrys
Motorrad vor der Fotowand mit dem
Schloß Neuschwanstein (Foto Leisner) 
Eine Postkarte aus Helsinki mit einem rosa-hellblauen Motorrad hat meine Aufmerksamkeit auf Grayson Perry gelenkt. Im Kiasma, dem Museum für moderne Kunst, sind seine Werke bis zum 2. September 2018 ausgestellt.

Der Künstler (die Künstlerin/ das Künstler?) Grayson Perry wurde 1960 geboren und ist mit riesigen Keramikvasen, Tapisserien und Entwürfen für Kleider bekannt geworden, aber er arbeitet in vielen verschiedenen Medien und seine Kreativität scheint keine Grenzen zu kennen.

Zum Vergleich: Karls Fahrrad vor derselben Kulisse
im September 2018 (oder doch nicht ganz dieselbe?)
Foto Karl Hofmann
Sein Alter Ego ist "Claire", die Person, in die er sich in Frauenkleidern verwandelt. Außerdem spielt ein Teddybär mit Namen "Alan Measles" eine wichtige Rolle in seinem Leben und seiner Kunst. Der Teddy war geliebter Gefährte einer Kindheit, die nicht gerade gut behütet zu nennen sein dürfte. Grayson Perry wehrte damals in seiner Fantasie die brutalen Deutschen unter dem Kommando seines Teddybären ab. Dieser wurde für ihn zum Helden und einer Art persönlichem Gott, sowie zu einer Verkörperung von allem, was an der Männlichkeit gut war.


Das Design des Motorrads

- Kenilworth AM1, 2010, Custom-built motorcycle

hat Perry selbst entworfen, wer das Fahrzeug gebaut hat, ist unklar. Eine Zeichnung beider Seiten des Motorrades findet sich in der Sammlung der Queen. Die Marke "Kenilworth" scheint eine eigene Erfindung zu sein (Es gibt historische Scooter mit dieser Bezeichnung). Der Schrein auf der Rückseite ist für den Teddybären, der darin auf einem silbernen Thron sitzt und hinausschauen kann.


Perry ist auf diesem Motorrad zehn Tage lang durch Bayern gefahren, sozusagen mit der Mission sich und seinen Teddy mit ihren alten Feinden zu versöhnen. Deshalb natürlich auch das Foto von Neuschwanstein hinter dem Motorrad: Perrys Werk vor dem Werk eines kongenialen deutschen Künstlers, des - wie Perry in einem Audio von der Reise sagt - "crazy bavarian king".
Auf dem Bild dieses Audios sieht man Perry auch in seiner extra für das Motorrad angefertigten bunten Kombi mit grünem Helm!
Die Kunstsurferinnen und -surfer waren amüsiert und erstaunt. Aber vielleicht muss man dieses Motorrad und seinen Fahrer einmal mit jenen ganzen Männern vergleichen, die üblicherweise "customized" - also auf sie zugeschnittene - Motorräder fahren? Hier findet man Bilder von einer Custom Bike Show von 2015. Dann stellt sich die Frage danach, was  "männlich" und was "weiblich" ist, vielleicht noch einmal ganz neu?

Als nächstes ging es um den Hochzeits- oder Eheschrein des Künstlers

- "He dares you to laugh harder" -  Marriage Shrine, 2017

der auf dem Bild zusammen mit einem Foto wiedergegeben ist:

- Couple visiting marriage shrine,

das Perry und seine Frau in Fantasiekleidern vor dem Schrein zeigt. Da kam natürlich die Frage auf, was ein Schrein eigentlich ist: ein heiliger Ort, ein Kasten zur Aufbewahrung von etwas, das man verehrt und - z.B. vor schlechtem Wetter - schützen will? Also hier ein heiliger Ort, in dem die Abbilder des Ehepaares mit Heiligenscheinen hinter einem Totenkopf stehen und gemeinsam eine Stange festhalten. In ihren Bäuchen offene Nischen, in denen Figuren zu sehen sind - bei Perry auf jeden Fall ein goldener Teddybär! (Also das, was sie sich einverleibt haben in ihrem Leben?) Eigentlich ein schönes Symbol für die Verbindung zweier Menschen, sollte das nicht jedes Paar haben, auch wenn sie dabei in göttliche Sphären gerückt werden?

Ganz anders der Eindruck von dem Bildteppich

- Death of a Working Hero (Tod eines Helden der Arbeit), Bildteppich 2016

Da stehen sich der Bergarbeiter und eine Art Boxkämpfer gegenüber und der kleine Junge dazwischen in seiner Mandorla fällt erst auf den zweiten Blick auf. Ist er wirklich gefangen zwischen den beiden Riesen, wie der neben dem Bild stehende Text behauptet? Dort heißt es weiter, dass der Künstler in Bergarbeiterstädte im Nordosten Englands fuhr. Dort traf er sich mit Arbeitern und Ringkämpfern und nahm an traditionellen lokalen Veranstaltungen teil, um die konventionellen Vorstellungen von "harter" Männlichkeit zu verstehen. Das Bild also als Kommentar zu "dieser Art von ererbter Männlichkeit"! Form und Stil des Teppichs sind außerdem den Fahnen der Gewerkschaften ähnlich, also wichtigen Symbolen der Arbeiterschaft. Umrahmt sind die Figuren von Texten "Zeit zu kämpfen", "Zeit zu reden" und "Zeit zu ändern" oben, wir arbeiten für die Zukunft, trauern um die Vergangenheit" unten. Die Trauer wird am unteren Rand bei den - hauptsächlich weiblichen - grau-schwarzen Figuren dargestellt, die vor dem Hintergrund einer Industriestadt zusammenstehen.

Bei dem Bildteppich

- Battle of Britain (Kampf um England), 2017,

haben wir uns dann länger aufgehalten. Auf den ersten Blick wirkte die Landschaft freundlich, aber bald sahen wir die Leere, die toten Bäume, die einsamen Radfahrer in ihrer künstlichen Spiellandschaft, die Abgeschlossenheit und Begrenztheit des Bildraumes durch die seitlichen Eisenbahn- bzw. Autobahnlinien, die bedrohlichen Wolken und den Vogelschwarm. Als wir dann dieses Bild noch mit seinem Vorbild, das Perry beim Malen im Kopf hatte, verglichen

- Paul Nash, Battle of Britain 1941,

schien uns die Ausstrahlung beider Bilder in ihrer bedrohenden Atmosphäre sehr ähnlich zu sein.

Danach wurde ein schönes Bild verlangt, aber ist das Selbstbildnis des Künstlers in der Pose der berühmten Olympia von Manet und ihrer zahlreichen Vorbilder wie z.B. der "Schlummernden Venus" von Giorgione oder der "Nackten Maja" von Goya schön?

- Reclining Artist, 2017 Holzschnitt auf Papier

Als interessant und ein wenig provozierend empfanden wir es allemal. Der Künstler porträtiert sich selbst als Frau mit männlichem Geschlechtsteil in der Pose seiner berühmten Malervorbilder und versammelt dabei um sich herum auf engem Raum seine eigenen Kunstwerke.

Auf den Künstler und seine Lust sich in eine Frau zu verwandeln wiesen dann ganz zum Schluss auch "ihre"

- Dresses (Kleider)

 hin, die zwischen 2000 und 2014 entstanden sind: Gelb ist "Claire’s Coming Out Dress" aus dem Jahr 2000, dann folgt das Kleid, das Angus Lai für Perry 2014 entworfen hat; das Kleid, das der Künstler für sich selbst entworfen hat von 2009; ein weiteres Outfit entworfen von Perry 2007, sein Künstlergewand von 2004 und das Turner-Preis-Kleid von 2003. Und man sollte dazu wissen, dass der Turner-Preis als der bedeutendste Kunstpreis in Großbritannien gilt!

Wer noch etwas mehr über den Künstler erfahren will, sei hier auf ein Video hingewiesen, in dem er über seine Kunst spricht (englisch).