Samstag, 2. Juni 2018

Wanderlust

Gustave Courbet, Bonjour Monsieur Courbet, 1854
(Quelle: Von Official gallery link, Gemeinfrei,
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=149648)
In der Alten Nationalgalerie in Berlin kann man sich noch bis zum 16.9.2018 anschauen, wie die Künstler anfingen die Natur zu erobern. Und natürlich machten es später die Bürger den Künstlern bald nach. Das Wandern wurde zum Volkssport. Die Ausstellung hat den schönen Titel:
Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir. 10.5. – 16.9.2018

Der Pressetext zur Ausstellung erinnert an Rousseaus Parole „Zurück zur Natur!“ und Goethes Sturm-und-Drang-Dichtung, mit denen "das Wandern um 1800 zum Ausdruck eines modernen Lebensgefühls" wird. Erzählt dann davon, dass Künstler sich seit der Romantik "die Natur zu Fuß und unter neuen Aspekten" erobern und, dass sinnbildlich das Wandern in der Kunst die Bedeutung der "Lebensreise und der symbolischen Pilgerschaft" zuwächst: "Die selbstbestimmte Fußreise eröffnet eine neue, intensive Art der Naturbegegnung und eine sinnliche wie auch körperliche Form der Weltaneignung."

In der Ausstellung sind Werke von Caspar David Friedrich, Carl Blechen, Karl Friedrich Schinkel, Johan Christian Dahl, aber auch von Künstlern der Modern wie Emil Nolde, Ernst Ludwig Kirchner, Otto Dix und Ernst Barlach zu sehen. Thematisch wurden die Bilder unter den Stichworten gehängt:

- Entdeckung der Natur
- Lebensreise
- Künstlerwanderung
- Spaziergänge
- Sehnsuchtsland Italien
- Wanderlandschaften nördlich der Alpen.

Wer mehr über die Geschichte des Wanderns wissen will, sei einmal wieder auf Wikipedia hingewiesen.



Unter dem Obertitel "Entdeckung der Natur", bei dem die Vorstellung einer gewaltigen, Furcht einflößenden Natur eine wichtige Rolle spielt (siehe dazu den Begriff des "Erhabenen") haben wir uns das Bild

- Jakob Philipp Hackert, Vesuv 1774

angeschaut und erst beim zweiten Hinsehen nicht nur die kleinen Menschen vor der rotglühenden Lava, sondern auch die winzigen Figuren in der Mitte des Bildes gesehen, die sich direkt an die Stelle gewagt haben, wo die Lava aus dem Berg heraustritt.

So wie bei Hackert, sind auch bei
- Heinrich Wuest, Der Rhonegletscher 1775

die Menschen, am unteren Rand der weißen Eisfläche nur winziges Beiwerk der grandiosen Szenerie, in der der Gletscher in den wolkigen Himmel hinaufragt, der mehr als die Hälfte des Bildes einnimmt.

Unter dem Oberbegriff "Lebensweg" steht in der Ausstellung das Bild von
- Karl Friedrich Schinkel, Felsentorm 1818

Uns fiel auf, das der Felsen, durch den sich der Blick auf die weite Gebirgslandschaft öffnet, wie ein verfallenes Tor wirkt. Dazu passt die kleine Öffnung am rechten Rand mit der Glocke, die von einem kleinen Mönch "bewacht" wird. Im Mittelgrund kommen drei Gestalten einen gut ausgebauten Weg herauf und halten an um den Ausblick zu bewundern. Offenbar handelt es sich um einen Wandersmann - er hat einen Stock in der Hand -, sowie um eine Dame auf einem Maultier, die ihren Kopf mit Hut und Schal geschützt hat, und den Maultierführer. Warum auf diesem Bild die Wanderung "Sinnbild für den Lebensweg" sein soll, erschloss sich uns allerdings nicht. Auch wenn sich rechts vom Weg der Abgrund auftut, scheint der Aufstieg doch nicht besonders beschwerlich zu sein, sondern gewährt vielmehr einen großartigen Ausblick. Übrigens liegen, wenn man genau hinsieht auf der anderen Seite der Schlucht auf gleicher Höhe eine Burg und ein Gehöft im Dunst.

Ein schönes Missverständnis ereignete sich dann beim nächsten Bild, bei dem es um das „Wandern als Ausdruck für das Einlassen auf etwas Unbekanntes - die Suche nach neuer Identität, nach neuem Lebenssinn" ging und um "die Bereitschaft, sich auf den Weg zu machen, ohne das Ziel bereits zu kennen."
Es geht dabei um das Wetterhorn, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts offenbar ein sehr beliebtes Motiv war. Jedenfalls hatte ich das folgende Bild dazu gefunden, das eigentlich von dem Maler Carl Eduard Biermann stammen sollte:

- Das Wetterhorn, 1829

Nur passte dazu die Information so gar nicht, dass im Vordergrund zwei winzige Wanderer mühsam durch Geröllhalden klettern und das Wandern so "zu einem eindrucksvollen Sinnbild für das mühsame Ringen um Welt- und Selbsterkenntnis" wird. Aber beim Kunstsurfen, denken ja alle mit und so hatte Karl bald das richtige Bild gefunden, nachdem Johannes darauf aufmerksam machte, dass dieses Bild von Ernst Ferdinand Öhme stammte. Und tatsächlich anstelle der Gruppe, die sich gemütlich auf ein paar Steinen niedergelassen hat, klettern im Vordergrund des Bildes von

- Carl Eduard Biermann, Das Wetterhorn, 1830

zwei winzige Wanderer mühsam durch's Geröll und staunen über das majestätische Gebirgspanorama. Und hier noch ein Link mit einem heutigen Foto vom Wetterhorn, da sieht man, dass die Maler ziemlich genau hingeguckt haben!

Noch mehr kamen wir ins Grübeln bei den Interpretationsmöglichkeiten des berühmten Gemäldes von
- Caspar David Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer, um 1817

Ausführlich kann man die Interpretationen hier nachlesen. Als Auslegungen kommen in Frage: Es handelt sich um a) eine Lebensallegorie, die das Bild vom erreichten Gipfel als Ziel des Lebens verwendet, b) den transzendenten Blick in die Zukunft, c) eine Bildmetapher für Leben und Todesahnung, Begrenztheit und Weite, Höhe und Abgrund, Diesseits und Jenseits, Glaube und Irrung, Gott und Welt, d) wegen des Gehrocks, den der Wanderer trägt und der als "Altdeutsche Tracht" angesehen wird, um einen deutschen Patrioten und schließlich um e) die Realität: Friedrich könnte in diesem Bild ja auch einfach seine Erfahrung als national orientierter Wanderer im Riesengebirge, im Harz oder in der Sächsischen Schweiz gemalt haben. Das waren alles Ziele, die die Künstler damals mit Vorliebe besuchten.

In der Ausstellung sind zwei verwandte Gemälde zu sehen, die aber meiner Ansicht nach bei weitem nicht an die Qualität des Bildes von Caspar David Friedrich heranreichen. Warum bloß? Darüber kann man eine Weile reden!

- Georg Friedrich Kersting, Herr auf einem Hügel, um 1820
- Carl Gustav Carus, Wanderer auf Bergeshöh, 1818


Wir sind dann noch zur "Künstlerwanderung" gekommen, bei der zwei Bilder die Aufmerksamkeit fesseln:

- Gustave Courbet, Die Begegnung oder Bonjour Monsieur Courbet, 1854

- Paul Gauguin, Bonjour Monsieur Gauguin (1889)

Dazu heißt es in einer Ausstellungsrezension: "Als 'kleine Sensation' werten die Ausstellungsmacher, dass sie erstmals zwei sich aufeinander beziehende Gemälde weltbekannter Künstler gemeinsam präsentieren können. So war Paul Gauguin 1888 bei einer Reise in die Provence besonders beeindruckt von Gustave Courbets Werk 'Die Begegnung oder Bonjour Monsieur Courbet' (1854). Gauguin ließ sich davon zu seinem Selbstbildnis 'Bonjour Monsieur Gauguin' (1889) inspirieren."

Courbet hat die Begegnung mit  seinem Mäzen Alfred Bruyas gemalt. Und da stellte sich dann sofort die Frage: Wer ist wer in dem Bild? Ja, richtig der kecke junge Mensch auf der rechten Seite mit seinem Tornister, aus dem die Staffelei ragt. Sieht der reiche Mäzen nicht fast ein wenig Unterwürfig aus? In der Ferne ist übrigens eine Kutsche zu sehen. Der Adel reiste im eigenen Wagen, der Künstler ging zu Fuß wie früher nur der gemeine Mann, die Vaganten und fahrenden Studenten. Da kommt also ein neues Selbstbild auf! Das im Übrigen nicht unbedingt der Wahrheit entsprochen haben muss, denn tatsächlich soll Courbet mit der Bahn zu seinem Zielort gereist sein...
Und Gauguin, wie malt er sich? Da wird von einer "bitteren Selbstpositionierung als Künstler" gesprochen, er trägt eine Pelerine wie ein Pilger und wird im Vorbeigehen von einer Bäuerin gegrüßt!

Unter dem Oberbegriff "Spaziergang" haben wir noch schnell auf das Bild von Renoir geschaut

- Auguste Renoir, Aufsteigender Weg durch hohes Gras, 1876/77,

in dem sich die Figuren fast zwischen den Sonnenflecken, Gras und Blumen auflösen. Dabei sind wir dann auch darauf gekommen, dass das Bild offenbar in zwei unterschiedlich farbigen Fassungen existiert. "Während die Künstler als einsame Wanderer die Konfrontation mit dem Berg suchen, verschmelzen die Frauen mit Wiesen und Gärten." Stimmt dieser Satz?

In der Ausstellung soll man immerhin erkennen: "Lustvolles Wandern ist auch eine Klassenfrage - man muss es sich leisten können." Übrigens gab es dann seit dem 19. Jahrhundert durchaus auch Frauen, die geradezu als Pionierinnen die gesellschaftlichen Schranken überwanden: Marie Paradis bestieg 1808  als erste Frau den Mont Blanc. Die Holländerin Jeanne Immink erfand nicht nur den Abseilgurt, sondern auch die Kletterhose für Frauen. Dazu passt das Bild, auf das Johannes mich noch aufmerksam machte:

- Jens Ferdinand Willumsen, Bergsteigerin, 1912

Im letzten Raum hätten wir noch die Plastik von

- Ernst Barlach, Wanderer gegen den Wind, 1934

sehen können, wenn denn die Zeit ausgereicht hätte. Empfehlen aber möchte ich noch ein modernes Werkt, das auch in Berlin zu sehen ist, das Video von

- Björk,  Wanderlust, 2015