Sonntag, 5. Juni 2016

Erwin Wurm - Bei Mutti

Screenshot der Website der Berlinischen Galerie
zur Ausstellung von Erwin Wurm "Bei Mutti" (5.6.2016)
Die Berlinische Galerie zeigt bis zum 22.08.2016 die Ausstellung des österreichische Künstlers Erwin Wurm (*1954) mit dem schönen Titel "BEI MUTTI", Erwin Wurm war 1987 als Stipendiat des DAAD-Künstlerprogramms in Berlin. Damals begann er, "die Grenzen zwischen Skulptur, Objekt und Performance auszuloten". Das tut er offenbar noch heute. Die Berlinische Galerie schreibt dazu: "Im Mittelpunkt steht der menschliche Körper und Wurms partizipatorischer Ansatz, den Betrachter zu einem Teil seines Kunstwerkes werden zu lassen." Und das kann man auch an der Website zur Ausstellung sehen, die den Künstler als One-Minute-Skulptur mit Stuhl zeigt.

Angeschaut haben wir uns den Ausgangspunkt dieses Ansatzes das 



Das hat naürlich sofort Rätselraten ausgelöst: Wie kommt man da rein? Kann man die Stühle überhaupt unter dem Tisch hervorziehen? Was ist in der Küche oben über dem Herd? Aus welcher Zeit stammt das Haus? Die letzte Frage wurde zuerst mit modern beantwortet und das zeigt, dass wir Senioren sind ;-)) und auch, dass wir je nach dem, wo wir in Deutschland gelebt haben, verschiedene Erinnerungen haben. Die Einschätzung "modern" kam aus dem Osten, während die Westler die Einrichtung mit den dänischem Design in Teak und großgemusterten Gardinen und Ornamenten aus der Pop-Art-Zeit in Verbindung brachten. Tatsächlich ist das Haus ein "detailgetreuer, begehbarer Nachbau von Wurms Elternhaus, gestaucht auf die Breite von 1,10 Meter". Länger sprachen wir über die Gefühle, die der Besuch dieses Hauses auslösen könnte, wir kamen nicht direkt auf "die Enge der Provinz", aber doch war klar, dass es hier um Enge und Beklemmung geht, die am eigenen Leib wahrnehmbar gemacht wird.

Das Gegenteil von Enge ist Weite. Offensichtlich denkt auch Wurm in solchen Gegensätzen, deshalb folgten einige der

- fat sculptures (der Link führt zu einem Blog mit den entprechenden Bildern)

Dicke Autos sind ja bei uns geradezu sprichwörtlich. Wenn einer ein dickes Auto fährt, dann ist das ein Symbol für Potenz, Macht und Geld. Aber die Fettsucht von Wurms Autos weist auf ganz andere Themen hin, z.B. auf eine besonders ausaufernde Schutzschicht, aber auch auf Empfindlichkeit, denn die Außenhaut dieser Autos besteht nur aus Styropor und Lack.

Das dicke Haus erinnerte noch mehr an den Wunsch nach Schutz und Sicherheit, da wurde zum Beispiel unerwünschte Strahlung imaginiert, die durch die dicken Wände und die engen Fensteröffnungen keinen Zutritt erhalten.

Eine weitere Variante des Themas Auto ist übrigens noch der Imbisswagen "Bob" in Lille, bei dem der Künstler die organischen Formen für ein echtes mobiles (und gleichzeitig auch noch nützliches) Kunstwerk eingesetzt hat.

Wie Wurm die Betrachter seiner Kunst zu einem Teil seines Kunstwerkes werden lässt, haben wir uns dann im folgenden Video angesehen:

one minute sculptures (Fotos von diesen "Skulpturen" gibt es auch  hier)

Wir waren uns nicht sicher, ob wir auch solche ungewöhnlichen Posen einnehmen würden, wenn wir dazu im Museum aufgefordert würden. Die Posen mit den gelben Bällen erinnerten zudem an frühere Zeiten, als man auf Festen aufgefordert wurde den sogenannten Orangentanz zu vollführen, bei doe beiden Partner beim Tanzen eine Orange zwischen den Stirnen balancieren müssen und das Paar gewinnt, dessen Orange am längsten an Ort und Stelle bleibt.

Die Frage kam auch auf, wie man sich als "lebende Skulptur" fühlt und natürlich war auch die Assoziation an lebende Skulpturen anderer Künstler da, besonders an Gilbert und Georges mit ihrer "Singing Sculpture" aus den 1970er Jahren.

Der Künstler arbeitet aber auch weiterhin mit vertrauten Objekten, die er auf seine Art interpretiert. Ein Beispiel dafür ist der

- telekintetically bent VW-Van (im Blog drei Bilder herunterscrollen!), den man in Hamburg auch einmal auf der Straße sehen konnte.

Der VW-Bus fährt übrigens nur noch Kreise und nimmt offensichtlich auch Jugenderinnerungen des Künstlers in sich auf, wenn in seiner Scheibe ein Text zu lesen ist, in dem auf die Erfolge Uri Gellers beim telekinetischen Verbiegen von Löffeln in den 1970er Jahren Bezug genommen wird. Da könnte man noch Einiges zum Thema "Paranormal" sagen, aber unsere Zeit ging zu Ende.

Dass immer ein Schuss Humor, Selbstironie und auch Zynismus in dem Werk von Erwin Wurm stecken dürfte, machte zum Schluss das

- Selbstporträt als Essiggurkerl, 2008

noch einmal deutlich. Die Installation besteht aus 36 naturalistisch bemalten Essig- und Salatgurken, gegossen aus Acryl. Jede Gurke steht auf einem eigenen Sockel und unterscheidet sich etwas von den anderen. Damit wird der Gegensatz zwischen "Gurke" und "Kunstwerk" auch an dieser Installation wieder deutlich herausgestellt. Wobei natürlich die Benennung als Selbstporträt, zusammen mit der Vervielfachung der eigenen immer wieder neu individualisierten "Gestalt" den besonderen Witz ausmacht. Der Ausstellungstext weist übrigens noch darauf hin, dass es sich bei der Frucht um einen Teil einer "beliebte(n) österreichische(n) Jause - das Leberkäsesemmerl mit Essiggurkerl" handelt.